Autogenes Training
Entstehung und Lehre
Das Autogene Training (Autogenes Training) wurde von dem Berliner Psychiater und Neurologen Johannes Heinrich Schultz (1884-1970) entwickelt. Mit Hilfe von Selbsthypnose und Autosuggestion soll ein Zustand konzentrativer Selbstentspannung erreicht werden. Schultz stützt sich auf die Forschungen des Hirnphysiologen Oskar Vogt, der die Umstände erforschte, unter denen Patienten sich selbst in Hypnose versetzen können. Seine Probanden gaben an, durch ihre selbsthypnotischen Übungen Stress und Ermüdung weniger zu empfinden. Stattdessen fühlten sie sich entspannter und leistungsfähiger. In seinem Buch „Das Autogene Training” (1932) stellt Schultz von ihm entwickelte Standard-Übungen vor. Sie bestehen aus einer Reihe verbaler Formeln, auf die sich der Patient passiv konzentriert, während er mit geschlossenen Augen entspannt auf dem Boden liegt oder bequem sitzt. Durch die regelmäßige Wiederholung dieser Übungen soll der Patient in die Lage versetzt werden, sich allein durch seine Einbildungskraft von einem hellwachen in einen erregungsfreien Zustand zu versetzen.
Schultz entwickelte sein Autogenes Training auf der Grundlage der Hypnose (gr. Schlaf). Als Begründer und Systematiker der Hypnose gilt der englische Arzt und Chemiker James Braid (1795-1860). In eigenen Experimenten konnte er beobachten, dass sich Versuchspersonen in einen hypnotischen Schlaf versetzen lassen, wenn sie längere Zeit konzentriert in eine Glaskugel starren. Der durch das Fixieren hervorgerufene tranceähnliche Bewusstseinszustand unterdrückt den bewussten Willen und die unmittelbare Wahrnehmung des Menschen. Das Unterbewusste öffnet sich für die verbale Beeinflussung durch den Hypnotiseur. Erwacht der Betreffende aus der Hypnose, hält er die ihm einsuggerierten Gedanken für Realität, im Einklang mit seinen eigenen Erinnerungen und Entscheidungen. So hat der Hypnotiseur nicht nur Einfluss auf die künftige „Erinnerung” des Probanden, sondern auch auf dessen künftiges Verhalten, das er fälschlich auf eigene Entscheidungen zurückführt. Durch die Hypnose mischen sich eigene und fremde Erinnerungen und Überlegungen bis zur Ununterscheidbarkeit. Aufgrund des Risikos hypnotischer Fremdbestimmung setzte Schultz auf eine Art Selbsthypnose, in der sich der Mensch die von ihm gewollten Gedanken und Verhaltensweisen selbst ins Unterbewusstsein einsuggeriert.
Ein weiteres Grundelement des Autogenes Trainings findet sich in der von dem französischen Apotheker Coué (1857-1926) entwickelten Autosuggestion (= Selbstbeeinflussung). Ziel dieser Methode ist es, Erkrankungen durch die Einbildungskraft des Patienten zu bekämpfen. In seinem Buch „Die Selbstbemeisterung durch bewusste Autosuggestion“ (dt. 1936) beruft sich Coué auf die Erfolge der Hypnose. Entscheidend für den Erfolg sei aber nicht die Tiefe des Schlafes, sondern der Wille des Probanden, gesund zu werden. Die Wirksamkeit der Autosuggestion führte Coué auf die beiden folgenden, von ihm formulierten Gesetzmäßigkeiten zurück:
- Jeder Gedanke im Menschen ist bestrebt, wirklich zu werden.
- Bedeutendste Triebfeder im menschlichen Handeln ist die Einbildungskraft, nicht Wille oder Intellekt. Formen der Autosuggestion finden sich heute sowohl in religiös-magischem Kontext als auch in der Esoterik und in charismatischen Gruppierungen. Gleicherweise wird in diesen Kreisen vertreten, der Mensch könne allein durch sein richtiges Denken (Glauben, Einbildungskraft) und sein richtiges Reden (vollmächtige Worte, machtvolle Befehle) die Wirklichkeit dauerhaft verändern.
Das Autogenes Training kann als meditative Methode bezeichnet werden, mit der sich der Mensch nicht auf einen Gegenstand oder eine Kraft außerhalb seiner selbst konzentriert, sondern sich ganz in den zu erreichenden Körperzustand hineinsteigert. Dabei versucht er, sich den erstrebten Zustand so lange innerlich bildlich vor Augen zu führen (Visualisierung), bis eigene Vorstellung und Realität übereinstimmen. Autogenes Training will vor allem physiologisch autonom (unwillkürlich) ablaufende Prozesse im eigenen Körper mittels Vorstellungskraft beeinflussen.
Unterstufe und Oberstufe
In der Praxis des Autogenes Trainings werden zwei Stufen voneinander unterschieden.
- In einer ersten Phase (Standardübungen) wird das Empfinden von Schwere, Wärme, Kälte, Muskelentspannung usw. in den einzelnen Körpergliedern eingeübt. Dann soll der Patient auch Atmung und Herztätigkeit durch meditative Konzentration beeinflussen. Der Anwender beherrscht die Unterstufen-Übungen soweit, dass er seine „passive Konzentration” über eine halbe Stunde hinweg aufrecht zu erhalten vermag. Passive Konzentration wird in diesem Zusammenhang eine diffus passive Wahrnehmung und Steuerung körperlicher Vorgänge genannt.
- In der nächsten Phase (Oberstufen-Übungen) kommen „formelhafte Vorsatzbildungen” hinzu. Diese werden auf das Individuum zugeschnitten und bestehen aus der Wiederholung therapeutischer Suggestionen, um z.B. negative Gedankenmuster zu korrigieren („Ich bin ruhig!”, „Ich bin sicher!”, „Ich bin glücklich!”). Erfahrene Nutzer ergänzen diese Formeln durch weitere meditative Praktiken. Letztlich sollen alle physischen (körperlichen), psychischen (seelischen) und geistigen Zustände durch Autogenes Training beeinflusst werden.
Die einzelnen Übungen des Autogenes Trainings werden zumeist von einem Experten vermittelt. In einem ruhigen Raum werden der interessierten Gruppe die empfohlenen Grundhaltungen erklärt. Dann lernen sie, sich passiv auf die Schwere ihres dominanten Armes zu konzentrieren und dieses Gefühl auf den ganzen Körper auszudehnen. Der erwünschte Effekt allerdings kann erst erreicht werden, wenn man die Übungen über einen längeren Zeitraum selbstständig durchführt (3-mal täglich für je 10 Minuten in der Unterstufe). Die Patienten werden aufgefordert, ein Tagebuch zu führen, um sich noch stärker auf die durch Selbstsuggestion hervorgerufenen Zustände zu konzentrieren. Jede Übungseinheit endet mit dem „Zurückholen”, einer bewussten Wiederherstellung normaler körperlicher Reaktionsverhältnisse, nachdem die Entspannung des Autogenes Trainings unwillkürlich ablaufende Körperreaktionen zuvor der eigenen Einbildungskraft unterstellt hat.
Beurteilung
Eine gewisse statistische Wirksamkeit wird dem Autogenes Training durch verschiedene medizinische Studien bescheinigt. Genannt werden in diesem Zusammenhang insbesondere psychosomatische Erkrankungen: z.B. Angstzustände, Phobien, allgemeine Schmerzen, Schlafstörungen, Stress, Depression, psychotische Störungen, Bluthochdruck.
Wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit Autogenes Trainings fehlen bislang. Das Verfahren scheint nach bisherigen neurophysiologischen Untersuchungen durch Meditation, Psychotherapie und Autosuggestion tiefgreifende Entspannung zu fördern, die wohl das limbische System und das Hypothalamus- Hypophysen- System betreffen.
Aus christlicher Sicht kann gegen die Bewusstwerdung des eigenen Körpers, gegen die bewusste Abwendung von äußerem Druck und Stress nichts eingewandt werden. Insbesondere die Oberstufe des Autogenes Trainings lässt sich mit einem biblischen Weltbild allerdings nicht vereinbaren.
- Autogenes Training beseitigt nicht die realen physischen Ursachen vorhandener Erkrankungen, weshalb auch nur ein suggerierter und kein wirklicher Gesundheitszustand erreicht werden kann. Dadurch besteht die Gefahr, notwendige medizinische Behandlung oder echte Lebensveränderung durch Gott zu vernachlässigen. Lediglich bei psychosomatischen Symptomen kann bedingte Hilfe geboten werden. Autogenes Training trägt nicht wirklich dazu bei, Probleme zu lösen (z.B. durch Versöhnung mit dem Ehepartner oder Entschuldigung beim Arbeitskollegen), sondern nährt die Illusion, als seien sie allein durch die veränderten Gedanken und Empfindungen bereits gelöst.
- Selbstsuggestion als Selbsttäuschung muss letztlich als Lüge bezeichnet werden, die mit durchaus gutem Ziel versucht, eine unangenehme Lebenssituation zu beseitigen, aber eben durch das Ausgeben bloßer Wünsche als Realität.
- Höhere Übungen des Autogenes Trainings wollen religiöse Antworten auf alle menschlichen Probleme anbieten. Schuld, Disharmonie, Unzufriedenheit usw. sollen allein durch Selbstsuggestion beseitigt werden, ohne die zugrunde liegenden geistlichen Probleme wirklich zu lösen. Mit dieser Art der Selbsterlösung ignoriert das Autogene Training die erlebte Realität und steht in direktem Widerspruch zum biblischen Angebot der Vergebung durch Schuldbekenntnis und stellvertretende Strafe. Tiefe Formen autogener Meditation öffnen den Menschen für eine umfassende kosmische Harmonie, für das bewusste Überschreiten der eigenen Persönlichkeitsgrenzen. Dadurch begibt sich der Betreffende in Gefahr asiatischer Vereinnahmung und Vereinigung mit unbenannten Mächten. 4. Wer Ruhe, Ausgeglichenheit und Friede durch Autogenes Training selbst in sich zu erzeugen versucht, verpasst die Chance, seine Sorgen an Gott abzugeben, der sie versteht und über die Macht verfügt, sie auch zu lösen. An die Stelle einer vertrauensvollen Gemeinschaft mit einem allmächtigen und liebenden Gegenüber tritt der vereinzelnde Rückzug in sich selbst.
Siehe auch: Alternativmedizin; Yoga.
Literaturhinweise
D.Vaitl / F.Petermann: Handbuch der Entspannungsverfahren, Band 1, 1993
F.Stetter / S.Kupper: Autogenes Training - qualitative Meta- Analyse kontrollierter klinischer Studien und Beziehungen zur Naturheilkunde, 1998, S. 211-223
Einzelhinweise und Quellen
Anmerkungen
Quellenangaben
Orginärer Autor: Michael Kotsch