Dreigliederung
Steiner Freiheitsphilosophie steht Pate in der Konzeption einer "Dreigliederung des sozialen Organismus", die er ab dem Jahre 1917 entwirft. Ausgelöst wird diese durch die Frage eines hochgestellten Mitglieds der Anthroposophischen Gesellschaft, den Münchner Reichsrat Otto Graf Lerchenfeld. Er bittet Steiner im Juni 1917, dem deutschen Volk einen Ausweg aus der verfahrenen politisch-gesellschaftlichen Situation - das Kriegsglück hatte sich gegen das Deutsche Reich gewendet - zu zeigen. Und schon im Juli des gleichen Jahres stellt Steiner in zwei Memoranden seine ersten Grundgedanken über eine "Dreigliederung des sozialen Organismus" dar. Diese Memoranden werden von Freunden Steiners an einflußreiche Politiker weitergeleitet, doch ohne Erfolg. Eine ausführlichere Darlegung wird 1919 in dem Buch "Die Kernpunkte der sozialen Frage" entwickelt, das eine weite Verbreitung erfährt, aber in der politischen Praxis auch so gut wie nichts bewegt – genauso wenig wie der nach dem verlorenen Krieg von Steiner verfaßte Aufruf "An das deutsche Volk und an die Kulturwelt", auf den ich noch zurückkommen werde. Worum geht es bei Steiners "Dreigliederungsidee"? Kurz gesagt um folgendes:
"So wie die menschliche Wesenheit durch drei Funktionssysteme gegliedert ist - durch das Nerven-Sinnes-System (Denken), das Rhythmische System (Fühlen) und durch das Gliedmaßen-Stoffwechsel-System (Wollen) -, sei die Dreigliederung auch im sozialen Organismus zu verwirklichen, nämlich die Freiheit im geistigen Leben, die Gleichheit der Menschen in rechtlicher Hinsicht und die Brüderlichkeit in den Prozessen der Wirtschaft" (Wehr 1993, 257).
Steiner fordert also eine Entflechtung von Geistesleben (Kultur, Wissenschaft, Religion und Erziehung), Rechtsleben (Jurisdiktion und Politik) und Wirtschaftsleben. Bisher sind diese drei Bereiche miteinander verbunden, woraus sich eine Reihe von Problemen ergibt, z.B. die Bevormundung von Wirtschaft, Kunst und Erziehung durch den Staat, die Abhängigkeit der Politiker von Wirtschaftsunternehmen, der Mißbrauch von Wirtschaftsunternehmen zu Kriegszwecken und ähnliches. Wir sehen, wie aktuell die Beobachtungen Steiners auch heute noch sind. Was aber schlägt er konkret vor? Walter Kugler faßt Steiners Gedanken folgendermaßen zusammen:
"Hinter der Chiffre Dreigliederung des sozialen Organismus verbirgt sich letztlich die Auflösung des Einheitsstaates. An seine Stelle ... haben in Zukunft zu treten ein vom Staat unabhängiges Wirtschaftsleben und Geistesleben. Das dritte Gebiet ist das Rechtsleben, das sich einzig auf die Regelung der öffentlich-rechtlichen Belange konzentriert. Jeder dieser drei Funktionsbereiche gibt sich seine eigene Struktur, seine eigene Verwaltung. Sie 'sollen nicht in einer abstrakten, theoretischen Reichstags- oder sonstigen Einheit zusammengefügt und zentralisiert sein`, sondern 'jeder Mensch als solcher wird ein Verbindendes` der drei Glieder des Organismus sein" (606, 6).
Steiner geht hierbei von einem optimistischen Menschenbild aus, indem er die "volle Selbstverwaltung" letztendlich so weit individualisiert, daß sie in jedem einzelnen Menschen zu liegen kommt. Hier dürfte das Gedankengut des "anarchistischen Individualismus" eines John Henry Mackay nachwirken, von dem Steiner einen Impuls aufnahm. So kann Steiner etwa im Blick auf das Wirtschaftsleben ausführen:
"Diesem Organisieren, das die Menschen zur Produktion von außen zusammenschließen will, steht diejenige wirtschaftliche Organisation, die auf dem freien Assoziieren beruht, gegenüber. Durch das Assoziieren verbindet sich der Mensch mit einem andern; und das Planmäßige des Ganzen entsteht durch die Vernunft des einzelnen" (606, 18).
Am 27.1.1919 trafen sich drei in der Wirtschaft tätige Anthroposophen, nämlich der Jurist Roman Boos, der Kaufmann Hans Kühn und der Direktor der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, Emil Molt, mit Rudolf Steiner zu einer Besprechung. Dabei wurden zwei wichtige Beschlüsse gefaßt: Erstens, sich nach dem verlorenen Krieg mit einem Aufruf "An das deutsche Volk und an die Kulturwelt" zu wenden, den Rudolf Steiner ausarbeiten und in dem er den Dreigliederungsgedanken als Mittel zur Genesung der Völker einer breiten Öffentlichkeit vorstellen sollte. Und zweitens, eine eigene staatsunabhängige Schulform zu begründen (Waldorf-Pädagogik).
Bereits am 2. Februar 1919 konnte Steiner seinen Freunden den fertigen Aufruf überreichen, die damit auf Unterschriftensammlung bei prominenten Persönlichkeiten gingen. Davon versprach man sich eine größere Wirkung als mit einer bloßen Weitergabe Steinerscher Memoranden an einflußreiche Politiker, wie dies in den Jahren 1917 und 1918 erfolglos geschehen war. Zu sehr war Steiner bereits als Esoteriker bekannt, dem man auf politischem Gebiet nichts zutraute. So suchte man "Verstärkung".
Viele der Angefragten verweigerten ihre Unterschrift unter den Aufruf. Die Enttäuschung der Initiatoren war groß. Aber sie gaben nicht auf, und so kam innerhalb weniger Wochen doch eine Reihe von Unterschriften zusammen. Neben bekannten Anthroposophen wie Friedrich Rittelmeyer und Emil Bock oder dem fernöstlichen Denken zugeneigten Persönlichkeiten wie Hermann Beckh und Hermann Hesse unterzeichneten auch Männer, die ansonsten zum anthroposophischen Denken keine Beziehung hatten, z.B. der liberale Theologe Martin Rade und der Naturforscher Hans Driesch.
Um die Steinersche Reformidee weiter voranzutreiben, wurde im Mai 1919 in Stuttgart der "Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus" gegründet, und am 8. Juli kam in der gleichen Stadt die erste Nummer der Wochenschrift "Dreigliederung des sozialen Organismus" unter der Schriftleitung von Ernst Uehli heraus. Bis heute werden diese Gedanken in anthroposophischen Kreisen weiter bewegt und diskutiert. Manches davon ist in Programmforderungen der deutschen "Grünen" in die Politik gelangt, die zum Teil eine eigenartige Mischung aus goetheanisch-organischen, anthroposophischen und marxistischen Forderungen darstellen. So heißt es z.B. im "Bundesprogramm" der Grünen von 1989 (S. 7):
"Eine grundsätzliche Neuorientierung des kurzfristig bestimmten wirtschaftlichen Zweckdenkens, die mit einschneidenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen einhergehen muß, ist notwendig, um ein ökologisches und soziales Wirtschaften sicherzustellen. Die GRÜNEN unterstützen alle Bewegungen, die sich für dezentrale und überschaubare Produktionseinheiten, sowie eine demokratisch kontrollierbare veränderte Anwendung der Technik einsetzen. Die Großkonzerne sind in überschaubare Betriebe zu entflechten, die von den dort Arbeitenden selbstverwaltet werden."
Der Zusammenhang zwischen anthroposophischer und grüner Bewegung (es gibt viele persönliche und ideologische Querverbindungen) wird auch in der Forderung nach Gleichberechtigung der Schulen in freier Trägerschaft deutlich:
"Gleichberechtigung aller Schulen in freier Trägerschaft bzw. Alternativschulen (Waldorfschulen, Glocksee-Schule, Tvind usw.), um die positiven Erfahrungen dieser Schulen zu nutzen" (Bundesprogramm, S. 40).
Interessanterweise werden an erster Stelle die anthroposophischen Waldorfschulen genannt, während z.B. Freie Christliche Bekenntnisschulen keine Erwähnung finden. Letztere werden vielmehr in Ländern, in denen die Grünen mitregieren, immer wieder bekämpft.
Beurteilung: Steiners Freiheitsphilosophie, die die Grundlage für den Dreigliederungs-Gedanken bildet, entstammt einem unbiblischen optimistischen Menschenbild. Es ist daher kritisch zu fragen, ob Steiners Konzeption nicht im Chaos endet. Er wendet sich zu Recht gegen einen absoluten Zentralismus und Dirigismus auf politischem, wirtschaftlichem und geistigem Gebiet mit seinen Auswüchsen. Das andere Extrem, dem Steiner zu verfallen droht, sieht freilich so aus, daß bei der immer weiteren Herunterstufung von Kompetenzen - letztlich bis zum Individuum - am Ende zu viele Individuen mitreden wollen und überhaupt keine konsensfähige und sinnvolle Entscheidung mehr zustande kommt - eine Erscheinung, die wir heute übrigens bei vielen Kongressen der "Grünen" im Parteimaßstab erleben, die maßgeblich von Anthroposophen (etwa aus dem der Dreigliederungsidee verbundenen "Achberger Kreis") mitbegründet wurden und bis heute mitgetragen werden (vgl. hierzu Gassmann 1994).
Literaturhinweise
L. Gassmann; Anthroposophie-Lexikon; Folgen Verlag; (Mai 20171)
Einzelhinweise und Quellen
Anmerkungen
Quellenangaben
Weitere Artikel in gedruckter Form finden Sie auf der Website von Dr. Lothar Gassmann (Redakteur).