Lucifer-Gnosis
Im Juni 1903 gibt Rudolf Steiner die erste Nummer der Monatsschrift "Luzifer" heraus, die - ab Januar 1904 mit dem von Wiener Theosophen initiierten Blatt "Gnosis" zu einer "Lucifer-Gnosis" vereinigt - bis Mai 1908 erscheint. In ihr druckt er seine späteren Bücher "Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?" und "Aus der Akasha-Chronik" in Fortsetzungen ab. Obwohl es bereits vor "Luzifer" eine deutsche theosophische Zeitschrift, nämlich den in Leipzig erscheinenden "Vahan", gab, sieht Steiner die Herausgabe eines eigenen Blattes für notwendig an, um seine besonderen Erkenntnisse darzustellen. Als seine Vortragstätigkeit jedoch immer größere Ausmaße erreicht, muß er das Erscheinen der "Lucifer-Gnosis" beenden, da die Herstellung - vom Schreiben bis zur Auslieferung - im wesentlichen von ihm selbst gemeinsam mit Marie von Sivers besorgt wurde. Daß Steiner für seine theosophische Zeitschrift den Titel "Luzifer" wählt, läßt jeden bibelkundigen Christen aufmerken und erschrecken, ist doch "Luzifer" nichts anderes als eine Bezeichnung für den von Gott abgefallenen "Engel des Lichts": Satan. In 2. Kor 11,14 lesen wir:
"Er selbst, der Satan, verstellt sich als Engel des Lichts. Darum ist es nichts Großes, wenn sich auch seine Diener verstellen als Diener der Gerechtigkeit."
Steiner wehrt sich gegen diese Deutung. Für ihn ist "Luzifer" nichts anderes als ein Symbol der Weisheit: "Das bedeutsame Symbol der Weisheit, die uns durch Forschung gegeben wird, ist Luzifer, zu deutsch der Träger des Lichtes. Kinder des Luzifer sind alle, die nach Erkenntnis, nach Weisheit streben", schreibt er in der ersten Nummer seiner neuen Zeitschrift im Juni 1903 (zit. nach Wachsmuth 1951, 31). Von daher erklärt sich auch die Zusammenstellung mit "Gnosis", dem Streben nach übersinnlicher Erkenntnis.
Ist aber wirklich alles so harmlos, wie Steiner es darstellt? Keineswegs! Zunächst ist festzuhalten, daß Steiner den Begriff "Luzifer" nur deshalb in seiner eigenwilligen Deutung benutzen kann, weil er gar nicht an die Existenz eines wirklichen Satans im biblischen Sinne glaubt. So geht er rein von der grammatikalischen Bedeutung "Lichtträger" aus, ohne die biblischen inhaltlichen Implikationen dieses Wortes zu berücksichtigen. Das jedoch stellt eine Verharmlosung der satanischen Wirklichkeit dar.
Diese Verharmlosung zeigt sich auch später bei Steiner, als er seine Lehre von "Luzifer" und "Ahriman" als den zwei polaren Gegensätzen (Luzifer als lichtvolles, geistiges Prinzip - Ahriman als verhärtendes, materielles Prinzip) entwickelt, zwischen die "der Christus-Sonnengeist" als "Menschheitsrepräsentant" ausgleichend und verbindend eintritt (vgl. etwa die von Steiner modellierte Statue im Goetheanum Dornach). Hier begegnet eine ins Okkulte getriebene Überhöhung der Hegelschen Dialektik, des Dreischrittes These - Antithese - Synthese, aber keine biblische Theologie, die nur das unvereinbare Gegenüber von Gott und Satan kennt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Feststellung von Klaus von Stieglitz, daß Steiner "seine Philosophie in seiner Christosophie historisiert" (Christosophie). Das gilt auch für seine Dämonologie, die mit der biblischen Lehre nur einzelne Begriffe, aber nichts Inhaltliches gemeinsam hat.
Ja noch mehr: Steiner verkehrt die biblische Dämonologie in ihr Gegenteil. So wertet er die Sündenfall-Erzählung in ihrer Tendenz positiv. "Luzifer" ist ihm der Garant des evolutionären Fortschritts, der die Menschheit zur Erleuchtung führen soll. Nur sei er leider zu früh gekommen (Anthroposophie). An kaum einer Stelle wird der antichristliche Charakter von Steiners Denken deutlicher als hier.
Literaturhinweise
L. Gassmann; Anthroposophie-Lexikon; Folgen Verlag; (Mai 20171)
Einzelhinweise und Quellen
Anmerkungen
Quellenangaben
Weitere Artikel in gedruckter Form finden Sie auf der Website von Dr. Lothar Gassmann (Redakteur).