Übersinnliches (bei Rudolf Steiner)

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In seiner Autobiographie "Mein Lebensgang" nennt Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, frühe übersinnliche Erfahrungen, die ihm das Unverständnis seiner Umwelt einbrachten (636,17f). Sie kamen vor allem auf dreifache Weise zustande: erstens durch die Beschäftigung mit der Geometrie, die ihm ermöglichte, "rein im Geiste etwas erfassen zu können" (636,17); zweitens durch das Erleben des katholischen Kultus, der nach Steiners Ansicht der "Vermittelung zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt" diente und demgegenüber "der Bibel- und Katechismus-Unterricht ... weit weniger wirksam" innerhalb seiner Seelenwelt war (636,22); drittens durch frühe okkulte Erlebnisse, etwa die Begegnung des Achtjährigen mit einem Geistwesen, das er für den Geist einer verstorbenen Familienangehörigen hielt und das ihn beauftragte, so viel er könne, für es zu tun (38,10ff). Im Folgenden werden diese prägenden Einflüsse auf Steiner belegt.

Ein hellseherisches Schlüsselerlebnis

Rudolf Steiner hielt sich als Kind häufig im Wartesaal des Pottschacher Bahnhofs auf. Als sieben- oder achtjähriger Knabe (im Jahr 1868) hatte er dort ein Erlebnis, das - wie Gerhard Wehr formuliert - sein ganzes weiteres Leben "leitmotivartig" bestimmen sollte (Wehr 1993, 24). Es ist der Kontakt mit der jenseitigen Welt. In einem Vortrag vom 4.2.1913 berichtet Steiner darüber:

"Aber auch noch etwas anderes bot sich dem Knaben. Da saß er eines Tages in jenem Wartesaale ganz allein auf einer Bank. In der einen Ecke war der Ofen, an einer vom Ofen abgelegenen Wand war eine Tür; in der Ecke, von welcher aus man zur Tür und zum Ofen schauen konnte, saß der Knabe. Der war dazumal noch sehr jung. Und als er so dasaß, tat sich die Tür auf; er mußte es natürlich finden, daß eine Persönlichkeit, eine Frauenspersönlichkeit, zur Türe hereintrat, die er früher nie gesehen hatte, die aber einem Familiengliede außerordentlich ähnlich sah. Die Frauenspersönlichkeit ging zur Türe herein, ging bis in die Mitte der Stube, machte Gebärden und sprach auch Worte, die etwa in der folgenden Weise wiedergegeben werden können: 'Versuche jetzt und später, so viel du kannst, für mich zu tun!` Dann war sie noch eine Weile anwesend unter Gebärden, die nicht mehr aus der Seele verschwinden können, wenn man sie gesehen hat, ging zum Ofen hin und verschwand in den Ofen hinein ...

Nachdem nun einige Tage vergangen waren und ein anderes Familienmitglied in der entsprechenden Weise vorbereitet worden war, stellte sich doch heraus, was geschehen war. An einem Orte, der für die Denkweise der Leute, um die es sich da handelte, recht weit von jenem Bahnhofe entfernt war, hatte sich in derselben Stunde, in welcher im Wartesaale dem kleinen Knaben die Gestalt erschienen war, ein sehr nahestehendes Familienglied selbst den Tod gegeben. Dieses Familienmitglied hatte der Knabe nie gesehen; er hatte auch nie sonderlich viel von ihm gehört ...

Das Ereignis machte einen großen Eindruck, denn es ist jeder Zweifel darüber ausgeschlossen, daß es sich gehandelt hat um einen Besuch des Geistes der selbstgemordeten Persönlichkeit, die an den Knaben herangetreten war, um ihm aufzuerlegen, etwas für sie in der nächsten Zeit nach dem Tode zu tun ...

Nun, wer so etwas in seiner frühen Kindheit erlebt und es nach seiner Seelenanlage zu verstehen suchen muß, der weiß von einem solchen Ereignisse an - wenn er es eben mit Bewußtsein erlebt -, wie man in den geistigen Welten lebt ... Und der Knabe lebte etwa von jenem Zeitpunkte ab mit den Geistern der Natur, die ja in einer solchen Gegend ganz besonders zu beobachten sind, mit den schaffenden Wesenheiten hinter den Dingen, in derselben Weise, wie er die äußere Welt auf sich wirken ließ" (Briefe I, 1948, 10ff.).

Dieses Erlebnis wird nicht im "Lebensgang", sondern nur im internen Vortrag von 1913 sowie in ähnlicher Form im - ebenfalls internen - autobiographischen Fragment wiedergegeben. Warum? Drei Gründe sind möglich: Zum ersten bietet es eine zu große Angriffsfläche für Steiners Gegner, die ihn ohnehin als Spiritisten verdächtigen. Zum zweiten möchte Steiner seinen Zugang zu den übersinnlichen Welten als etwas methodisch Erlernbares nach naturwissenschaftlicher Analogie verstanden wissen. Dazu steht aber das unmittelbare Erleben, wie es dem Knaben zuteil wurde, im Widerspruch. Zum dritten tritt ein solch frühes hellseherisches Erlebnis bei einem sieben- oder achtjährigen Knaben in Gegensatz zu Steiners Lehre, daß das Hellsehen erst mit der Ausbildung des "Astralleibes", also ab dem 15. Lebensjahr, möglich wird.

Dennoch ist dieses Ereignis gegeben und wird auch von verschiedenen Schülern und Biographen Steiners bezeugt (z.B. Rittelmeyer 1983, 102; Hemleben 1983, 23f.). Wehr nennt die Möglichkeit, daß man ein solches Hellsehen, das sich "spontan" und "ohne eine besondere spirituelle Schulung des Betreffenden" einstellt, nach anthroposophischer Lehre als "letzten Rest eines alten Hellsehvermögens", als "atavistisches Hellsehen" bezeichnen könne. Dieses sei in früheren Jahrhunderten weit verbreitet gewesen und könne als "Erbstück der archaischen Menschheit" gelten (Wehr 1993, 24). Unwillkürlich wird man hier an Carl Gustav Jungs Lehre vom "kollektiven Unbewußten" erinnert, die ebenfalls okkulte Elemente aufweist (vgl. Nannen 1991, 181ff.).

Rudolf Steiners Eltern nehmen dieses hellseherische Erlebnis ihres Jungen nicht ernst und bezeichnen es als dummen Aberglauben. Mit seinem Erlebnis alleingelassen und mit der technischen Welt seines Vaters konfrontiert, reift in ihm der Gedanke, die übersinnliche Welt mit der naturwissenschaftlich-technischen Erfahrung zusammenbringen. Keimhaft beginnt von nun an in ihm die Suche nach einem Weg, um in voller Aufnahme des aufklärerischen, naturwissenschaftlichen und technischen Denkens das Dasein der übersinnlichen Geisterwelt zu erforschen und in sie einzudringen. "Da waren die 'Grenzen der Erkenntnis`. Und ich hätte diese Grenzen so gern überschritten", resümiert er im Rückblick auf die Pottschacher Zeit (636, 13).

Welche Wertung dieses hellseherischen Erlebnisses ergibt sich aus christlich-biblischer Sicht? Gehen wir einmal von der Wahrhaftigkeit der Erzählung Steiners aus, dann handelt sich um das Wiedergänger-Phänomen - eine spiritistische Spukerscheinung von (in der Regel gewaltsam) Verstorbenen. Oft beruhen solche Phänomene auf der übersteigerten Phantasie und Einbildung der Betreffenden. Es gibt jedoch auch echte Phänomene. Der Okkultismus-Experte Kurt E. Koch schreibt:

"Wiedergänger können auch materialisierte Dämonenerscheinungen sein. Schon Luther wies darauf hin, daß Dämonen und böse Geister das Aussehen von Verstorbenen annehmen, um Lebende zu verführen" (Koch 1984, 714).

Meines Erachtens ist diese Erklärung im Falle Steiners am naheliegendsten. Nicht die selbstgemordete Tante ist Steiner erschienen, sondern ein Dämon, der ihn dazu aufforderte, für ihn zu wirken. Steiners Weg wird nun zunehmend ein Weg in den Abgrund, denn er wendet sich nicht von den übersinnlichen Mächten ab, die auf ihn eindringen, sondern öffnet sich ihnen immer mehr.

Die Bibel warnt hingegen deutlich vor jeder Art von Okkultismus und Spiritismus. Dieser steht im Widerspruch zum ersten Gebot, das uns auffordert, Gott allein die Ehre zu geben und ihm zu vertrauen (2. Mose 20,2f.). Praktiken wie Wahrsagen, Hellsehen, Totenbefragung und Astrologie sind Gott ein Greuel (3. Mose 19,31; 5. Mose 18,9ff.). Wer sich darauf einläßt, verfällt wie Saul dem Gericht (1. Sam 28,7ff.). Wer etwas über die göttlichen Geheimnisse erfahren möchte, soll nicht Verstorbene, sondern die Bibel ("Mose und die Propheten") befragen (Lk 16,19ff.). Spiritistische Betätigung kann eine Vielzahl von seelischen, geistigen und geistlichen Schädigungen mit sich bringen. Wirkliche Befreiung von durch Spiritismus entstandenen Bindungen ist nur möglich durch einen Herrschaftswechsel aus dem Reich Satans in das Reich Gottes, durch die Übereignung des Lebens an den Erlöser Jesus Christus (Lk 11,20; Eph 6,10ff.).

Übersinnliches in der Geometrie

Rudolf Steiner sucht nach dem hellseherischen Erlebnis im Pottschacher Bahnhof nach Bestätigungen für die neuentdeckte Welt des Übersinnlichen. Diese findet er in seiner Auffassung des katholischen Kultus und der Geometrie, die er sich in den Jahren um 1869 erringt. Bereits 1868 ist die Familie nach Neudörfl an der Grenze zwischen Ungarn und Niederösterreich umgezogen. Rudolfs Vater schickt ihn in die dortige Dorfschule. Dem Hilfslehrer Heinrich Gangl verdankt er nach seinen eigenen Worten "viel" - weniger wegen des Unterrichts als vielmehr wegen eines Geometriebuches von Franz Mocnik, das ihm Gangl für einige Wochen leiht. Rückblickend führt Steiner aus:

"Wochenlang war meine Seele ganz erfüllt von der Kongruenz, der Ähnlichkeit von Dreiecken, Vierecken, Vielecken; ich zergrübelte mein Denken mit der Frage, wo sich eigentlich die Parallelen schneiden; der pythagoreische Lehrsatz bezauberte mich, daß man seelisch in der Ausbildung rein innerlich angeschauter Formen leben könne, ohne Eindrücke der äußeren Sinne, das gereichte mir zur höchsten Befriedigung ... Ich sagte mir als Kind natürlich nicht deutlich, aber ich fühlte, so wie Geometrie muß man das Wissen der geistigen Welt in sich tragen. Denn die Wirklichkeit der geistigen Welt war mir so gewiß wie die der sinnlichen ... Ich unterschied Dinge und Wesenheiten, 'die man sieht`, und solche, 'die man nicht sieht`... Der Hilfslehrer in Neudörfl lieferte mir mit seinem Geometriebuch die Rechtfertigung der geistigen Welt, die ich damals brauchte" (636, 17f.).


Kritisch ist hier anzumerken, daß die "geistige Welt" keineswegs ein einheitliches, neutrales Gefüge ist. Naturgesetze, die gedanklich-geistig erfaßt werden können, sind etwas anderes als eine Geisterwelt gefallener Engel, in die der Mensch hellseherisch eindringen möchte. Der anthroposophische Erkenntnisweg, welcher der Selbsterhebung des Menschen in den Bereich des Übersinnlichen hinein und damit der satanischen Verführung der Schlange (vgl. 1. Mose 3,1ff.) entspricht, läßt sich nicht durch rein äußerliche Parallelen in Form geometrischer Gesetze rechtfertigen (Erkenntnisse höherer Welten).

Übersinnliches im katholischen Kultus

Außer in der Geometrie sucht Steiner die Rechtfertigung seiner hellseherischen Schau im katholischen Kultus, den er als Ministrant in Neudörfl miterlebt. Er schreibt:

"Wir Schulknaben hatten den Ministranten- und Chordienst zu verrichten bei Messen, Totenfeiern und Leichenbegängnissen. Das Feierliche der lateinischen Sprache und des Kultus war ein Element, in dem meine Knabenseele gerne lebte ... Der Bibel- und Katechismus-Unterricht, den der Pfarrer erteilte, war weit weniger wirksam innerhalb meiner Seelenwelt als das, was er als Ausübender des Kultus tat in Vermittelung zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt" (636, 21f.).

Hier fällt auf, daß Steiner nicht von der katholischen Dogmatik, sondern vom äußeren Kultus der katholischen Messe beeindruckt ist. Später wird er die Feierlichkeit kultischer Handlungen auch bei heidnischen Mysterienreligionen entdecken und - etwa in der Menschenweihehandlung der Christengemeinschaft - mit christlich-kultischen Elementen vermischen. Ein "dogmatisches Christentum" lehnt er bis zu seinem Tode ab. Auch hier bleibt ihm der Weg zu einem biblisch-christlichen Glauben verschlossen.

Literaturhinweise

L. Gassmann; Anthroposophie-Lexikon; Folgen Verlag; (Mai 20171)

Einzelhinweise und Quellen

Anmerkungen


Quellenangaben



Weitere Artikel in gedruckter Form finden Sie auf der Website von Dr. Lothar Gassmann (Redakteur).



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