Bibelverständnis (anthroposophisches)

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Die Bibel als einheitliche und ganzheitliche Größe

Darstellung der anthroposophischen Auffassung

Die Komposition der Bibel aus übersinnlichen Welten

Anthroposophische Bibelausleger betrachten die Bibel als einheitliche und ganzheitliche Größe. So wendet Steiner z.B. kritisch gegen die alttestamentliche Quellenscheidung ein, sie verliere den "einheitlichen Geist in der Bibel". Demgegenüber solle man das Alte Testament doch "als Ganzes auf sich wirken lassen", man solle "geistig" seinen "spirituell-künstlerischen Sinn" erkennen und nicht mehr glauben, es sei "ein Stück in der Mitte von dorther, ein anderes Stück von woanders herrührend" (139,31f). In ähnlicher Weise spricht E. Bock im Blick auf die Evangelien im Neuen Testament von "Kunstwerken" und ihrer Komposition durch übersinnliche Welten:

"Die Evangelien sind Kunstwerke; aber sie sind zugleich unendlich viel mehr: sie sind Kunstwerke Gottes. Wer ihre höhere Figur erkennt, schaut in ein Symbolum hinein, das in seiner Ordnung und Komposition die heiligen Ordnungen und Gesetze einer höheren, göttlichen Welt offenbart, die wesenhaft in und über der Sinneswelt den großen Leib Gottes bildet" (Ev,45).

Treten solche Ausführungen in Gegensatz zur historisch-kritischen Exegese - insbesondere zur formgeschichtlichen Forschung - in der Theologie? G. Wehr verneint dies und versucht, eine "Synthese" herbeizuführen, die freilich in Wirklichkeit eine Abgrenzung der jeweiligen "Zuständigkeitsbereiche" darstellt. Er schreibt:

"Zweifellos hat jede historisch-kritische Arbeit ihre Berechtigung, solange die aus ihren Ergebnissen zu ziehenden Schlüsse keine Metabasis, keine Grenzüberschreitungen in einen anderen Zuständigkeitsbereich hinein bedeuten. Die Frage nach dem Geistursprung eines Textes, sowohl seines Sinngehaltes nach [sic] wie im Hinblick auf die `spirituell-künstlerische' Seite seiner Gestaltung, bleibt noch unbeantwortet, wenn der Literarhistoriker sein Votum über eine Perikope abgegeben hat“ (Wehr 1968, 59f).

Der exoterisch arbeitende Theologe - dieser Gedanke steckt dahinter - sei nämlich nicht in der Lage, hinter die literarische Gestalt und schon gar nicht hinter die mündliche Tradition zurückzufragen, was der Esoteriker hingegen aufgrund seiner übersinnlichen Erkenntnis ohne weiteres könne. So schreibt Wehr weiter:

"Die literarische Gestalt, selbst - sofern erschließbar - die Form der mündlichen Tradition, ist bereits ein Fertiges, Abgeschlossenes. Der schöpferische Impuls, die wortschöpferische Inspiration, das `bibelstiftende Bewußtsein' muß zuvor am Werk gewesen sein ... Die eigentliche Autorschaft liegt gar nicht beim Aufschreibenden, sondern kommt durch Wirkungen aus einer anderen Sphäre zustande ... So kann sich die formgeschichtliche Forschung ... von einer.spirituellen Betrachtung befruchten lassen, die über die literarische und mündliche Überlieferung der Evangelien hinaus zu dem ewigen Evangelium des Christus vorstoßen will“ (ebd., 60).

Zwei wichtige Begriffe sind hier angeklungen: "Inspiration" und "ewiges Evangelium". Wir betrachten zunächst den zweiten Begriff.

Das "ewige Evangelium" hinter den Evangelien

Die anthroposophische Bibelauslegung geht davon aus, daß hinter den geschriebenen „Evangelien“ ein einheitliches, nicht schriftlich fixiertes, nur in den höheren Welten existierendes Ur-Evangelium, das "ewige Evangelium" steht, aus dem die einzelnen Evangelisten und Verfasser heiliger Schriften hellseherisch geschöpft haben. Hier wird der in Offb (Apk) 14,6 vorkommende Begriff "ewiges Evangelium" ("euangelion aionion") inhaltlich mit der Steinerschen Akasha-Chronik identifiziert. Anknüpfend an die platonische Ideenlehre, führt beispielsweise Bock folgendes aus:

"Da werden wir an das Wort der Offenbarung des Johannes erinnert von dem ewigen Evangelium, dem `Evangelium aeternum'. Wir haben uns vorzustellen, daß es in der übersinnlichen Welt das große Evangelium gibt, von dem es auf der Erde immer nur abgeschattete Widerspiegelungen geben kann. So ist das Neue Testament eine bereits heller gewordene Offenbarung dessen, was im Alten Testament noch stark von Schatten durchzogen ist. Und der alttestamentliche Tempeldienst ist der noch dunkle vorausgeworfene Schatten dessen, was sich nachher lichtvoll im christlichen Sakrament offenbart und was im Gange der Zeiten immer neue und durchsichtigere Formen der Offenbarung finden wird" (Ev,1007).

Deutlich spricht hier Bock von einer mehrstufigen, immer heller werdenden Offenbarung - Vorstellungen, die uns in einer ähnlichen Form im 12. Jahrhundert bei Joachim von Fiore und im 13. Jahrhundert beim radikalen Flügel der sabbatianischen Kabbalah in Gestalt einer variierten Tora de `aziluth begegnen (vgl. Scholem 1989, 113). Anthroposophische Bibelausleger greifen offensichtlich auf diese Vorstellungen zurück.

J. v. Fiore (ca. 1135-1202) unterschied drei "Weltzeiten" (status) in Anlehnung an die göttliche Trinität. Sie besitzen v. a. folgende Kennzeichen:

Weltzeit des Vaters: Gesetz und Furcht, sklavische Knechtschaft, Züchtigung, Wasser, Verheiratete, Wissen, Zeit des Alten Testaments

Weltzeit des Sohnes: Gnade und Glaube, kindlicher Dienst, Tätigkeiten, Wein, Kleriker, Teilhabe an der Weisheit, die Zeit seit Usia und vollends seit Christus, Petruskirche

Weltzeit des Geistes: Liebe, Freiheit, Kontemplation, Öl, Mönche, Vollkommenheit der Erkenntnis, die Zeit seit Benedikt, vollends seit dem Jahr 1260, Johanneskirche

Wenn die Weltzeit des Geistes da ist, wird der Geist ein "ewiges Evangelium" offenbaren. Dieses wird durch die vollkommene, "geistbestimmte Erkenntnis" (intelligentia spiritualis) erfaßt. In Apk 14,6 ist von dem Engel die Rede, der ein ewiges Evangelium bringt. "Ein geschriebenes Evangelium ist dann unnötig ... Doch ist zu beachten, daß es sich [sc. beim `ewigen Evangelium'] wesentlich nicht um ein anderes, sondern um ein tiefer verstandenes Evangelium gegenüber der Zeit des Sohnes handelt“ (Maier 1981, 174).

Wir entdecken bei J. v. Fiore mehrere Kennzeichen einer spirituellen Interpretation, die uns sowohl in der späteren Kirchengeschichte als auch in der anthroposophischen Bibelauslegung immer wieder begegnen:

  1. Es gibt ein unsichtbares "ewiges Evangelium" als Urbild der geschriebenen Evangelien.
  2. Das "ewige Evangelium" wird erkannt, indem uns der "Geist" zur "vollkommenen Erkenntnis" führt
  3. Im Zeitalter des Geistes oder der „Johanneischen Kirche“ ist die "Buchstabenreligion" zu Ende.
  4. Die geschriebenen Evangelien und die anderen biblischen Urkunden sind für denjenigen im Grunde unnötig, der den direkten Zugang zum Geist hat.
  5. Dennoch treten sie (als unvollkommene Abbilder) nicht in Widerspruch zum "ewigen Evangelium" (als vollkommenem Urbild), sondern werden von letzterem her erst in ihrem eigentlichen, tieferen Sinn erschlossen. Ihre zunächst noch verborgene innere Einheit wird offenbar.

Der anthroposophische Inspirationsbegriff

Der zweite wichtige Begriff im Text von G. Wehr lautet "Inspiration". Was ist in der Anthroposophie damit gemeint?

E. Bock definiert "Inspiration" als "eine Stufe des erhöhten Bewußtseins und Erkennens, in das der Mensch sich erheben kann" (Ev,48). "Inspiration" wird also ganz im Steinerschen Sinn aufgefaßt: als eine Stufe des anthroposophischen Erkenntnisweges. Der Mensch erweitert sein Bewußtsein und dringt dadurch in die übersinnlichen Welten ein.

Auch die biblischen Schriften sind nach Bocks Ansicht so entstanden - und können auch nur so verstanden werden: "Man muß selber Anteil haben an der Welt eines inspirierten Erkennens, um den inspirierten Charakter einer Schrift oder eines Kunstwerkes erkennen und Grade der Inspiration unterscheiden zu können" (Ev,70). Diese Fähigkeit jedoch ist "in inspirationslosen Zeiten" und "im Zeitalter materialistischen Denkens" verlorengegangen, so daß man mehr und mehr von einer organischen zu einer mechanischen Inspirationsauffassung übergegangen ist, mit der dann wiederum eine "nach Erkenntnis-Ehrlichkeit strebende Theologie ... aufzuräumen" hatte. Die "fast zum Dogma erstarrte Lehre von der Inspiration" zerbröckle "von Tag zu Tag mehr", schreibt Bock unter Berufung auf den Neutestamentler Adolf Deißmann (Ev,70f).

Anthroposophie soll "die Wiedergewinnung des Inspirationsgedanens" ermöglichen, weil sie "selber aus lebendiger Inspiration" stammt und "auch von neuem einen lebendigen und nicht dogmatisch isolierten Inspirationsbegriff" enthält (ebd). Mit "Inspiration" ist nicht mehr der gesamte Vorgang gemeint, welcher der Schriftwerdung der Bibel vorausgegangen ist, sondern eben nur eine Stufe auf dem hellseherischen Erkenntnisweg zwischen Imagination und Intuition. Bock fährt fort:

"Mit dieser genauen Unterscheidung dessen, was früher einfach in den allgemeinen Begriff der Inspiration zusammengefaßt wurde, ist außerordentlich viel für das Verständnis der Evangelien und ihres übersinnlichen Ursprungs gewonnen. Es ist dadurch vor allem möglich gemacht, die verschiedenen biblischen Schriften und in den einzelnen Schriften die verschiedenen Teile in ihrem individuellen Charakter voneinander zu unterscheiden" (Ev,72).

Die unterschiedlichen "Erkenntnisstufen" der biblischen Verfasser

Diese Unterschiede in und zwischen den biblischen Schriften versucht Bock dadurch zu erklären, daß die einzelnen Schreiber der Bibel zu unterschiedlichen Stufen der Erkenntnis aufgestiegen seien. Es habe im Urchristentum "durch Schicksal und Schulung Menschenseelen" gegeben, in denen "nicht nur das gewöhnliche Sinnes- und Verstandesbewußtsein Platz hatte, das die sinnliche Welt spiegelt, sondern dazu ein erhöhtes Bewußtsein, das die übersinnliche Welt spiegelt ... und je nach Schicksal und Schulung unterschieden sich auch die Bewußtseine der verschiedenen Evangelisten" (Ev,49). Und das sind nach Bock die Stufen, die die einzelnen Evangelisten erreicht haben:

"Die ersten beiden Evangelien, nach Matthäus und Markus, zeigen sich als Früchte des imaginativen Wahrnehmens, weshalb sie in Bildern verlaufen, die gar nicht immer physische Vorgänge wiedergeben. Sie sind durchaus nicht in erster Linie Berichterstattung von dem, was sich äußerlich zugetragen hat. Vor allem sind es Bilder, in denen beschrieben wird, was sich innerseelisch zugetragen hat. Das Lukasevangelium stammt auch aus der Imagination, aber auf wunderbare Weise strahlt bereits etwas von Inspiration herein. Ein unmittelbares Logos- und Wortwirken verbindet sich mit dem bildhaften Element. Das Johannesevangelium ist auch von Imagination durchwoben, aber überall steigt es sogleich zum inspirativen und am Schluß sogar zum intuitiven Element auf“ (Bock 1953, 53f).

Mit "Imagination" sind also vor allem Bildreden (Gleichnisse) und (innerseelisch zu verstehende) Wundertaten gemeint. "Inspiration" soll das reine Wortwirken in den Reden bezeichnen, das freilich häufig von Bildern durchsetzt ist. "Intuition" schließlich soll die Textstellen erfassen, an denen es zu einer direkten Berührung mit dem Göttlichen kommt, etwa wenn der Lieblingsjünger beim letzten Mahl an Jesu Brust liegt oder der zweifelnde Thomas den Auferstandenen berühren darf (vgl. ebd.). Ein ähnliches Schema führt Bock zur Erklärung der Unterschiede zwischen "historischen", "poetischen" und "prophetischen" Büchern im Alten Testament ein:

"In der ersten Gruppe [sc. historische Schriften] herrscht das imaginative Wahrnehmen vor, in der zweiten [sc. poetische Schriften] das Wort, das sie als inspirative Schriften erkennen läßt; die prophetischen Schriften schließlich sind aus dem intuitiven Element hervorgeflossen“ (ebd., 55).

Auch für das Neue Testament in seiner Gesamtheit will Bock diese verschiedenen Erkenntnisstufen auf die einzelnen Schriften verteilt wissen:

"Da stehen am Anfang herrliche göttliche Bilderbücher [sc. die Evangelien], weil sie aus der Bilderschau der Imagination stammen. Dazu kommen in der Mitte die Briefe des Paulus und der anderen Apostel: das Wort herrscht vor, Inspiration fließt herein ... In der Offenbarung des Johannes ... webt und wogt der Atem und Pulsschlag der Intuition“ (ebd.; vgl. Ev,73).

Hier finden wir bei Bock allerdings einen inneren Widerspruch: Er ordnet nun die Evangelien als "Bilderbücher" allesamt der Sphäre der Imagination zu, während er vorher innerhalb der Evangelien unterschieden und bereits für Lk und Joh "höhere Stufen" postuliert hatte (nicht erst für die Briefe!). Wir werden auf diesen Widerspruch zurückkommen, wenn wir die Schematisierung bei Bock hinterfragen (s.u.).

Die "geistige" Harmonisierung von Widersprüchen

Die "geisteswissenschaftliche" Erklärung für die Unterschiede zwischen den biblischen Büchern haben wir kennengelernt. Wie aber hält die Anthroposophie ihre Lehre von der Einheit und Ganzheit der Schrift gegenüber der Behauptung aufrecht, daß es Widersprüche in den biblischen Büchern gebe? Indem sie - wie Bock in Anlehnung an Origenes ausführt - weder über sie hinwegliest noch einer "Evangelienkritik" verfällt, sondern sie auf einer anderen, "geistigen" Ebene vereinigt:

"Ihm [Origenes] sind die `Widersprüche', die ja lediglich in der Unvereinbarkeit äußerer Vorgänge und Tatsachen beruhen, Aufforderungen, den tieferen Sinn zu suchen. Widersprechen sich die äußeren Tatsachen, so handelt es sich entweder um zwei verschiedene äußere Begebenheiten, oder aber es handelt sich ganz oder teilweise nur scheinbar um äußere, in Wirklichkeit aber um geistige Vorgänge. Die Tatsachen widersprechen sich nur innerhalb einer falschen Auffassung; geistig verstanden stimmen sie zusammen" (Ev,37).

Beispiele für diese Betrachtungsweise werden wir unten kennenlernen.

Zusammenfassung

  1. Anthroposophische Ausleger betrachten die Bibel als etwas "Ganzes" und betonen die "Einheitlichkeit" der biblischen Schriften.
  2. Sie gelangen zu dieser Ansicht aufgrund ihrer Vorstellung über die Entstehung der Bibel: Die Verfasser haben Erkenntnisse höherer Welten gehabt und Einblick in die Akasha-Chronik besessen.
  3. Die Akasha-Chronik wird - unter Aufnahme joachimitischer Gedanken und Berufung auf Offb 14,6 - auch mit dem Namen "ewiges Evangelium" belegt.
  4. Die innere Einheit der biblischen Schriften erklärt sich aus dem "einheitlichen Geist", der in der Akasha-Chronik bzw. in dem "ewigen Evangelium" herrscht und zu dem die biblischen Verfasser aufgrund ihres "erhöhten Bewußtseins" Zugang gehabt haben.
  5. Äußere Unterschiede im biblischen Schrifttum rühren von der Unzulänglichkeit des "gewöhnlichen Sinnes- und Verstandesbewußtseins" und den unterschiedlichen Stufen der Erkenntnis her, welche die biblischen Verfasser erstiegen haben.
  6. Der einheitliche Geist der biblischen Schriften ist nur für den Esoteriker erkennbar, der ebenfalls den Erkenntnisweg geht und dabei die Bibel "in einer ganz neuen Weise" liest, nämlich als "Erkenntnisbuch" (139,30f).
  7. Der Exoteriker jedoch, der sie nur hier und da "in einer etwas süßlich-sentimentalen Art" als "Gebrauchsbuch" aufschlägt (naiv-wörtlicher Zugang) oder mit seiner bibelkritischen "Gelehrsamkeit" in "lauter Fragmente" auflöst (wissenschaftlicher Zugang), kann schwerlich zur Erkenntnis ihrer Einheit gelangen (ebd.; vgl. Spirituelle Interpretation).

Theologische Kritik der anthroposophischen Auffassung

Die Unvereinbarkeit von anthroposophischem und biblisch-theologischem Inspirationsbegriff

Die anthroposophische "Inspiration" ist eine Stufe des Steinerschen Erkenntnisweges, eine "Stufe des erhöhten Bewußtseins und Erkennens, in das der Mensch sich erheben kann" (Ev,48). Manche biblischen Verfasser seien bis zu dieser Stufe, manche auch zu anderen Stufen übersinnlicher Erkenntnis (Imagination, Intuition) emporgestiegen. Sie seien Eingeweihte gewesen, die in Kontinuität zu den Eingeweihten der heidnischen Mysterienreligionen gestanden hätten (s. o.).

Im Gegensatz hierzu ist der biblisch-theologische Inspirationsbegriff nicht auf einzelne Teile der Bibel beschränkt. Der Geist Gottes läßt sich nicht quantifizieren und in unterschiedlichem Maß auf verschiedene biblische Schriften verteilen. Er ist, wie Otto Weber (I/1972, 259) zu Recht feststellt, nicht "etwas 'Göttliches' innerhalb des für uns Denkbaren und Verrechenbaren", das sich in pantheistischer oder synergistischer Weise vereinnahmen ließe.

"Der `Unterschied', der zwischen dem Heiligen Geist und allem menschlichen Werk besteht, ist vielmehr qualitativ. Je entschiedener wir ihn denken, desto weniger werden wir in Gefahr geraten, ihn positiv oder negativ zu quantifizieren und in einen innerdimensionalen Unterschied umzuwandeln."

Daß die Anthroposophie diesen qualitativen Unterschied zwischen Gott und Welt, zwischen göttlichem und menschlichem Geist nicht wahrt, haben wir im Artikel Gottesbild nachgewiesen. Die Auswirkung auf das Inspirationsverständnis ist offensichtlich: Läßt sich nämlich aus theologischer Sicht "Inspiration" als von Gott ausgehender "Erwählungs- und Ermächtigungsvorgang" definieren, bei dem Menschen "zu einem auf Jesus Christus verweisenden Wort des Zeugnisses" ermächtigt werden (P. Stuhlmacher 1986, 57), so kommt die anthroposophische Auffassung - ganz im Gegenteil dazu - der Selbstbemächtigung einer höheren, vermeintlich göttlichen Sphäre durch den Menschen gleich.

Die Unhaltbarkeit der anthroposophischen Lehre von den "Erkenntnisstufen“

Doch wie verhält es sich mit den Unterschieden zwischen den Evangelien? Um diese zu erhellen, braucht man nicht wie Steiner davon auszugehen, daß die Evangelisten verschiedene Stufen des Erkenntnisweges erstiegen hätten oder "aus vier verschiedenen Mysterientraditionen schöpften" (619,112). Die Unterschiede lassen sich viel einfacher und theologisch begründbar durch die unterschiedlichen Situationen, in denen die Evangelien entstanden sind, die unterschiedlichen Zielgruppen, an die sie gerichtet sind, und das unterschiedliche Quellenmaterial, das ihren Verfassern vorlag (vgl. Lk 1,1ff), erklären.

Die anthroposophische Verteilung der biblischen Schriften auf die Stufen von "Imagination", "Inspiration" und "Intuition" preßt die Schriften und ihre Verfasser in ein starres, dem Reichtum der Textaussagen widersprechendes Schema, das der Souveränität und geschichtlichen Lebendigkeit der göttlichen Offenbarung nicht gerecht wird. Auf den inneren Widerspruch in der Darstellung Bocks (er unterteilt die Evangelien an einer Stelle in imaginativ, inspirativ und intuitiv empfangene und ordnet sie an einer anderen Stelle allesamt der Ebene der "Imagination" zu) haben wir bereits oben im Rahmen der Darstellung hingewiesen. Ein zusätzliches Beispiel zeigt die Unhaltbarkeit des anthroposophischen Schemas noch deutlicher auf.

Wie Bock (1953, 54) schreibt, findet sich nur in den Schlußkapiteln des Johannesevangeliums "das Nähe-Geheimnis, das der Sphäre der Intuition innewohnt". Zur Intuition, zum Einswerden mit dem Geistwesen des Christus (vgl. 601,264f) komme es durch Berührung mit diesem, etwa als der Lieblingsjünger "an Jesu Brust" liege (Joh 13,23.25) oder der zweifelnde Thomas den Auferstandenen "berühren" dürfe (Joh 20,24ff). Die anderen Evangelisten seien höchstens bis zur Ebene der "Inspiration" aufgestiegen. - Nun findet sich aber nicht nur im Joh, sondern auch am Ende des Lk die Aufforderung des Auferstandenen, ihn zu berühren, und damit (gemäß anthroposophischer Definition) der Sachverhalt der "Intuition": "Sehet meine Hände und Füße, ich bin's selber. Fühlet mich an (psylaphesate) und sehet; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr sehet, daß ich habe" (Lk 24,39).

Die anthroposophische Vorstellung von der Entstehung der biblischen Schriften ist somit in sich widersprüchlich und darüber hinaus mit dem biblisch-theologischen Inspirationsverständnis unvereinbar. Sie entspricht nicht der biblischen Offenbarung, sondern dem anthroposophischen Erkenntnisweg.

Die Unhaltbarkeit der anthroposophischen Lehre vom "ewigen Evangelium"

Das "ewige Evangelium", aus dem die einzelnen Evangelisten geschöpft hätten, ist folgerichtig in der Anthroposophie nur eine andere Bezeichnung für die hellseherisch geschaute Akasha-Chronik. Der in Offb 14,6 gebrauchte Begriff "euangelion aionion" läßt sich aber mit der anthroposophischen Akasha-Chronik nur gewaltsam - durch allegoristische "Eisegese" - in Verbindung bringen. Vom gesamtbiblischen Kontext her ergibt sich nämlich, daß das "euangelion aionion" die "Wiederaufnahme der Missionspredigt am Ende der Tage" bedeutet. Sie enthält die letzte, gnadenvolle "Aufforderung, Gott als den Schöpfer der Welt zu fürchten und zu ehren, begleitet von dem Hinweis auf den nahen Tag des Gerichts" (Zahn 1926, 520). Die Kennzeichnung dieser Predigt als "aionios" gibt der "Einheitlichkeit, Unveränderlichkeit, unvergänglichen Gültigkeit des göttlichen Ratschlusses" Ausdruck (G. Friedrich, Art. „euangelizomai“, ThWNT II/1935, 733). Eine zeitliche Vorverlegung der Enthüllung dieser Botschaft in die Gegenwart verbietet sich ebenso wie eine Spekulation über deren Inhalt, die über das im Text Gesagte hinausgeht. Daraus folgt: Das "ewige Evangelium" nach Offb 14,6 ist nicht die Akasha-Chronik.

Die Unhaltbarkeit der anthroposophischen Harmonisierung von Widersprüchen

In den Artikeln Erkenntnisse höherer Welten und Akasha-Chronik haben wir sowohl die Uneinheitlichkeit der "Schauungen" aus der Akasha-Chronik als auch ihre Unvereinbarkeit mit der biblischen Offenbarung nachgewiesen. Die Akasha-Chronik kann somit keinesfalls als "Kronzeugin" für die Einheit der Bibel gebraucht werden. Auch eine Harmonisierung kann nicht durch eine allegorische Uminterpretation des Wortlauts erzwungen werden. Eine solche Allegorisierung nimmt aber die anthroposophische Bibelauslegung vor, indem sie Tatsachen, die sich nach ihrer Ansicht in einer äußerlichen "falschen Auffassung" widersprechen, "geistig" in Einklang zu bringen sucht (Bock; s. o.).

Am Beispiel der "sieben Schöpfungstage" soll dies veranschaulicht werden. Steiner deckt zunächst einen äußeren "Widerspruch" auf, um ihn dann mit Hilfe seiner okkulten Erkenntnisse "geistig" aufzulösen:

"Nun weiss doch jedes Kind heute, dass die Ordnung unseres 24stündigen Tages von dem Verhältnis der Erde zur Sonne abhängt. Wenn das aber erst am vierten Tag eingerichtet worden ist, so kann vorher von solchen Tagen nicht die Rede sein ... Da hat man es nicht zu tun mit einer blossen abstrakten Zeitbestimmung, sondern mit etwas Wesenhaftem. Jom [= das hebr. Wort für "Tag"!; d. Verf.] ist eine Wesenheit. Und wenn man es mit aufeinanderfolgenden sieben solcher Jomen [sic] zu tun hat, dann hat man es mit sieben einander ablösenden Wesenheiten oder, meinetwillen, Wesensgruppen zu tun ... Es sind die dienenden Geister der Elohim ..." (122,77ff).

Steiner übersieht in seiner Kritik, daß nach Gen 1,3ff nicht erst durch die Erschaffung der Gestirne (am "vierten Tag"), sondern bereits durch die Scheidung von Licht und Finsternis der Zeitrhythmus ("der erste Tag") entsteht. Die Schöpfung "beginnt nicht mit der Scheidung des Weltraumes, sondern mit der von Tag und Nacht als der Grundordnung der Zeit" (C. Westermann, 1976, 157). Die Bezeichnung "Tag" - konstituiert durch "Abend und Morgen" - bleibt von da an immer gleich. (Zum Polytheismus bei Steiner s. Gottesbild).

Als zweites Beispiel wählen wir die beiden Speisungswunder-Berichte im Mt und im Mk (Mt 14,15-21 / Mk 6,35-44: Speisung der Fünftausend; Mt 15,32-39 / Mk 8,1-9: Speisung der Viertausend). Wie Bock erwähnt, sieht die kritische Forschung in diesen Berichten eine "'Doublette"', "den doppelten Bericht eines und desselben Vorganges" (Ev,203). Werden die Berichte als Doublette gelesen, dann ergeben sich für Bock unausweichlich Widersprüche zwischen ihnen, v. a. im Blick auf die unterschiedlichen Zahlenangaben. Die anthroposophische "Lösung" besteht darin, daß die Zahlen nicht quantitativ, sondern "qualitativ" aufgefaßt werden. "Jede Zahl war ein individuelles Wesen, eine Figur", schreibt Bock (Ev,204). Nach anthroposophischer Deutung sind "mit den 5000 und 4000 nicht abgezählte Menschenmengen gemeint", sondern astrologisch bestimmte "Weltentage":

"Weltschöpfung und Weltgeschichte verlaufen in Rhythmen von je sieben großen Weltentagen. Was am 3. Tag geschieht, steht unter dem Zeichen der Zahl 3000, die Menschen des 4. Tages sind die 4000, die Menschen des 5. Tages die 5000 ... der 5. Tag, an dem wir heute leben, steht im Zeichen der Fische" (Ev,205f).

Bocks Konsequenz im Blick auf die biblischen Berichte lautet:

"Die irdischen Zeitgenossen des Christus-Lebens sind die 4000. Die 5000 leben noch gar nicht auf der Erde, sie ruhen noch wie der 5. Weltentag selber im Zukunftsschoße" (Ev,208).

Bei dieser anthroposophischen Deutung handelt es sich um Zahlen-Allegorese. Sie stützt sich auf das "Platonische Jahr" (Präzession), dessen Aufteilung in zwölf Tierkreiszeichen in der Astrologie mit zwölf aufeinanderfolgenden "Zeitaltern" in Verbindung gebracht wird. Da diese Deutung im Literalsinn der Texte keinen Anhaltspunkt findet, kann sie nur durch fortgesetzte Allegorisierung aller weiteren Textdetails aufrechterhalten werden. So bemerkt Emil Bock: "Es mag jemand den Einwand machen: Ist nicht eine so deutlichirdische Einzelheit: `es war aber viel Gras an dem Ort' die glatte Widerlegung der These, daß es sich um eine Szene im Geistgebiet handele?" (Ev,212). Bock verneint dies und fügt das "Gras" durch allegorische Deutung in seine Darstellung ein:

"Für die übersinnliche Anschauung, so wird es oftmals von Rudolf Steiner beschrieben, bietet der Leib im Wachen das Bild einer verdorrenden, im Schlaf dagegen das Bild einer grünenden Wiese dar. Es ist viel Gras an dem Ort: Die Fruchtbarkeit der Nacht, die alles am Tage Verbrauchte wieder herstellt, waltet allenthalben" (Ev,213).

Eine "Harmonisierung", die auf eine solche Art zustande kommt, wirkt jedoch gewaltsam und kann nicht überzeugen.

Zusammenfassung

  1. Die Vorstellungen von den unterschiedlichen Einweihungsstufen der biblischen Verfasser und einem "ewigen Evangelium", aus dem sie hellseherisch geschöpft hätten, entstammen der Steinerschen Weltanschauung; sie finden aber keinen Anhaltspunkt in den biblischen Texten selber und sind darüber hinaus in sich widersprüchlich.
  2. Da die als "ewiges Evangelium" bezeichnete Akasha-Chronik bei ihren "Interpretatoren" zu unterschiedlichen Ergebnissen führt und zudem eine völlig spekulative und spiritistisch inspirierte Größe ist, kann sie keinesfalls zur Begründung der Einheit und Ganzheit der Bibel herangezogen werden. Ihre Begründung durch Offb 14,6 ist willkürlich.
  3. Eine "geistige" Auflösung von vermuteten biblischen Widersprüchen durch anthroposophisch-spirituelle Interpretation kann ebenfalls nicht zur Begründung der Einheit und Ganzheit der Schrift dienen; sie widerspricht den klaren Textaussagen und beruht auf frei assoziierenden Umdeutungen.
  4. Über die Frage der Einheit und Ganzheit der Schrift ist damit nicht entschieden (sie wird auch von uns positiv beantwortet); die anthroposophischen „Lösungen“ jedoch haben sich als unhaltbar herausgestellt.

Die Bibel als Einweihungs- und Meditationsbuch

Darstellung der anthroposophischen Auffassung

Die anthroposophische Definition von "Einweihung"

Wir sahen bereits: Steiner will die Bibel als "Erkenntnisbuch" lesen (139,30). An anderen Stellen bezeichnet er die Evangelien (auf sie richtet er immer wieder sein besonderes Augenmerk) als "aufgefrischte Einweihungsritualien" (131,209), als "umgeschriebene, alte Einweihungsritualien" (124,68), als "Einweihungsbücher" (ebd). Auch Bock nennt sie "Einweihungsbücher" (Ev, 52). Was ist gemeint?

"Einweihung " ist nach Steiner die Stufe auf dem Weg der "Erkenntnisse höherer Welten", die "den Verkehr mit den höheren Wesenheiten des Geistes" eröffnet - die dritte Stufe nach der "Vorbereitung" (sie entwickelt "die geistigen Sinne") und der "Erleuchtung" (sie zündet "das geistige Licht" an) (600,30). Wir haben dieselben Stufen unter den Bezeichnungen "Imagination", "Inspiration" und "Intuition" im Artikel Erkenntnisse höherer Welten detailliert dargestellt. "Einweihung" bezeichnet also die Stufe der "Intuition". Freilich ist dieser Sprachgebrauch nicht einheitlich, denn Steiner kann gleichzeitig den gesamten Erkenntnisweg als "Einweihung" bezeichnen. Dabei denkt er vom Ziel seiner Darstellung her und ordnet die Vorstufen "Vorbereitung" und "Erleuchtung" der "Einweihung" unter. Auch gebraucht er den Begriff "Einweihung" (oder "Initiation") für die hellseherischen Wege der alten Mysterien (z.B. Ägyptens und Griechenlands), die - in einem anderen Zeitalter stehend - eine Vorform des Steinerschen Weges bildeten.

Die Bibel als Einweihungsbuch

"Was mag in solchen alten Einweihungs- oder Initiationsvorschriften [sc. der Mysterienkulte] gestanden haben?" fragt Steiner und gibt sogleich folgende Antwort:

"In ihnen war vorzugsweise enthalten, wie der Kandidat für die Schulung zu den höheren Welten stufenweise seinen Weg hinaufgeführt werden sollte, wie er nach und nach gewisse innere Erlebnisse, gewisse Erlebnisse seiner Seele durchzumachen hatte, wie er die in seiner Seele schlummernden Kräfte zur Erweckung zu bringen hatte; wie sich eine höhere Stufe an eine niedere angliederte, bis zu jener Stufe der Initiation hinauf, auf welcher hereinbricht in die Seele des zu Initiierenden die geistige Welt..." (124,68f).

Auch die Verfasser der Bibel sind nach anthroposophischer Vorstellung "Eingeweihte", "Mysten" oder "Initiierte" gewesen. Sie haben "Erkenntnisse höherer Welten" besessen - freilich in unterschiedlichem Maß (vgl. 619,111ff). Die höchste Stufe hat Lazarus erstiegen, der in der Anthroposophie als Verfasser des Joh gilt (Johannesevangelium). Deshalb ist, so schreibt Bock, unter den vier Evangelien nur das Joh "im eigentlichen Sinne inspiriert" und darüber hinaus "von Intuition durchwoben". "Die ersten drei Evangelien: Matthäus, Markus, Lukas sind geschaut, `imaginiert"' (Ev,55). Aus der Entstehung der biblischen Bücher (hier z.B. der Evangelien) erklären sich ihr Wesen und ihre Funktion: Durch Einweihung der Verfasser entstanden, sind sie Einweihungsbücher und haben die Einweihung der Leser zum Ziel. Bock formuliert das so:

"Ein jedes biblische [sic] Buch führt die Menschenseele einen Weg, der durch Stufen aufwärts leitet. Die Evangelien sind nicht Bücher zum bloßen Lesen; sie sind nicht historische Berichte, die stets auf dem gleichen Niveau verlaufen. Sie sind Bücher, die die Menschenseele anleiten wollen zur stufenweisen Wandelung ... Wenn es recht verstanden wird, so kann man sagen, daß die Evangelien Einweihungsbücher sind in dem Sinne, daß die Seele darin die Stufen von Weihewegen emporgeleitet wird" (Ev,52).

Je höher ein biblischer Verfasser auf dem "Weihe-" oder "Erkenntnisweg" emporgestiegen ist, desto höher kann er auch die Seele seines Lesers führen (ebd). Daher rührt die Hochschätzung des Joh in der Anthroposophie. Gerade am Joh nun versucht Bock zu demonstrieren, daß es auch eine "Steigebewegung" (vgl. Ev,52) innerhalb der einzelnen biblischen Bücher gibt:

"Ihre umfassendste Ausgestaltung findet die johanneische Imagination in den Kapiteln 1-11, in den sieben Wundern, die johanneische Inspiration in den Kapiteln 12-17, den Abschiedsreden, die johanneische Intuition in den Kapiteln 18-21, Passion und Auferstehung" (Ev,61).

Wenn die Evangelien "Einweihungsbücher" sind, welche die Seele "die Stufen von Weihewegen" emporleiten sollen (Ev,52), wie steht es dann mit ihrem historischen Gehalt? Steiner antwortet auf diese Frage mit seiner eigentümlichen Deutung des Christentums als "mystische Tatsache". "Das Christentum als mystische Tatsache" (so der Titel des betreffenden Vortragszyklus) ist "eine Entwicklungsstufe im Werdegang der Menschheit". Es ist "die Erfüllung nicht nur dessen, was die jüdischen Propheten vorhergesagt hatten", sondern auch "die Erfüllung dessen, was die Mysterien vorhergebildet hatten". Die Folge: "Das Kreuz von Golgatha ist der in eine Tatsache zusammengezogene Mysterienkult des Altertums" (619,165). Zwischen den alten Mysterien (z.B. Ägyptens und Griechenlands) und dem Christentum bestehen allerdings zwei wichtige Unterschiede:

  • Erstens: "Was sich ... für die alten Mysterienkulte im Innern der Mysterientempel abgespielt hat, das ist durch das Christentum als eine weltgeschichtliche Tatsache aufgefaßt worden" (619,107).
  • Zweitens: "Zu dem Christus Jesus, dem Initiierten, dem in einziggroßer Weise Initiierten, hat sich die Gemeinde bekannt ... Die Mysterienweisheit wurde für die christliche Gemeinde unlösbar verknüpft mit der Persönlichkeit des Christus Jesus" (ebd).

Anders ausgedrückt: in dem "Christus Jesus" ist das, was sich jahrtausendelang "in dem tiefsten Geheimnis der Mysterientempel" zugetragen hat (nämlich das Eindringen in die übersinnlichen, geistigen Welten) in einzigartiger Weise "historisches Ereignis" geworden (124,70f). So entsteht gewissermaßen eine Gleichung: Mysterieneinweihung (übersinnlich) = Jesusleben (historisch) - wobei das erste auf das zweite hinstrebt. Von dieser Gleichung her eröffnet sich für Steiner ein Rückschlußverfahren in beide Richtungen:

  1. vom Leben Jesu her auf die Mysterien ("Hier ... ist es [sc. die Einweihung] historisches Ereignis geworden, aber es ist eine Wiederholung der Tempelritualien"; 124,71);
  2. von den Mysterien her auf das Leben Jesu ("Wir könnten also das Jesus-Leben beschreiben, wenn wir angeben die Stufen, die sonst bei den Einweihungen durchgemacht wurden"; ebd).

    "Deshalb nehmen sich die Evangelien aus wie sozusagen in Weltgeschichte umgesetzte Einweihungsvorschriften", folgert Steiner (ebd). Am Leben Jesu läßt sich der Weg der "Einweihung" verfolgen, besonders an Kreuzigung und Auferstehung, die dem "Stirb und Werde" bei der Mysterieninitiation entsprechen (vgl. 619,107.126).

Steiner bestreitet somit nicht den historischen Gehalt der biblischen Schriften, aber er relativiert ihn. Er möchte durch die Historie hindurch in die "Mysterientraditionen" blicken: "Man schöpfte nicht aus der Geschichte, sondern aus den Mysterientraditionen" (619,112). K. v. Stieglitz (1955, 51) hat Steiners Auffassung von den Evangelien so kennzeichnen wollen: "Sie sind historischer Bericht im Mysteriengewand." Wir treffen den Sachverhalt besser, wenn wir diese Formulierung umdrehen:

Die Evangelien sind für Steiner Mysterienmitteilungen im historischen Gewand. Die Mysterien sind der Kern; das Historische ist nur die Schale, durch die es vorzustoßen gilt.

Die anthroposophische Definition von "Meditation"

Den Kern, den "Geist" der Schrift nun entdeckt man nicht durch Kritik, sondern durch Meditation. Der Anthroposoph Rudolf Meyer (im Vorwort zu: Frieling/Schühle 1962, 5f) ruft dazu auf, "das Bewußtsein aus den Fesseln eines erdverhafteten Intellektualismus freizukämpfen", um in die Bezirke hinaufzuwachsen, "aus denen Offenbarung fließt". Das leistet "die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners". "Man kann es auf die Formel bringen: wo der voreilige Intellekt meint, kritisieren zu müssen, beginnt sie zu meditieren." "Meditation" ist ein vielgebrauchtes und vieldeutiges Wort. Was ist in der Anthroposophie damit gemeint? G. Wehr (1968, 63ff) trifft folgende Unterscheidung:

"An dieser Stelle sei nur gesagt, daß unter Meditation nicht das verstanden wird, was als `Predigtmeditation' in die theologische Fachsprache Eingang gefunden hat und dort sachgemäßer als Besinnung über den Text beziehungsweise über die Situation der Predigthörer bezeichnet würde. Der geisteswissenschaftliche Meditationsweg ist ein Übungsweg zur Stärkung der Seele ... Rudolf Steiner ... nennt als erste Eigenschaft, die ausgebildet und geübt werden kann, `die rückhaltlose, unbefangene Hingabe an dasjenige, was das Menschenleben oder auch die außermenschliche Welt offenbaren'.“

Dann beschreibt Wehr weitere Stufen des Steinerschen Erkenntnisweges, die durch meditative "Übungen" erstiegen werden sollen. "Meditation" im anthroposophischen Sinn ist also ein Ausdruck für die Übungshaltung, die auf das Erringen der "Erkenntnisse höherer Welten" hinzielt - eine Haltung, in der man sich - wie Steiner schreibt - "zum völlig leeren Gefäß" macht, "sich auslöscht" und "alles unbefangen auf sich wirken" läßt (615,137f). Dadurch gelangt man zum Lesen der Akasha-Chronik (Wehr: zum "geistigen Quellort des Gotteswortes") und über diese zum Geist der Schrift.

Die Bibel als Meditationsbuch

Worüber soll nun meditiert werden? In der Darstellung der Erkenntnisse höherer Welten haben wir festgestellt, daß es Gegenstände, Empfindungen oder auch Worte und Formeln sein können. Als solche Worte und Formeln, die im "magischen" oder "mantrischen" Sinn gebraucht werden sollen, gelten der Anthroposophie auch Texte der Bibel. So sagt Steiner im Blick auf den Bibelgebrauch der Rosenkreuzer, die er als Vorläufer seines anthroposophischen Erkenntnisweges betrachtet:

"Man las das Johannes-Evangelium nicht wie ein literarisches Erzeugnis, sondern sah darin ein Mittel zur Einweihung... Die ersten vierzehn Verse dieses Evangeliums waren für die Rosenkreuzer Gegenstand einer täglichen Meditation und einer geistigen Übung. Man schrieb ihnen eine magische Wirkung zu, und diese haben sie in der Tat für den Okkultisten. Solcher Art war ihre Wirkung. Indem man sie täglich zur selben Stunde unermüdlich wiederholte, gelangte man dazu, im Traumbewußtsein die Vision von all den Ereignissen zu haben, die im Evangelium erzählt werden, und sie innerlich zu erleben" (94,48f).

Emil Bock schreibt von einem "mantrischen Gebrauch des Wortes", der "bis in die urchristlichen Jahrhunderte" - etwa im gottesdienstlichen Rezitieren - eine Rolle gespielt habe:

"Ein Text, der Gottes Wort war, mußte so vorgelesen werden, daß wirklich Gott sprach, wenn der Text erklang ... Nicht auf den gedanklich erfaßbaren Inhalt, sondern auf den mantrischen Wert des Wortes kam es an. Man könnte diesen auch den Besprechungswert nennen in dem Sinne, daß man glaubte, durch das Ertönenlassen der heiligen Texte ein geistiges Fluidum herbeisprechen zu können. Dieses Prinzip hat bis in die urchristlichen Jahrhunderte eine Rolle gespielt ... Wichtiger als was Gott sprach, war, daß er sprach" (Bock 1953, 56).

Bock sieht dieses "Ertönenlassen der heiligen Texte" als Vorbild dafür an, wie heute - im Zeitalter der "Bewußtseinsseele" - "das Bibelwort dem lebendigen Hören zurückgegeben" werden kann. Wie er ausführt, wird eine "neue Bewußtseinsära ... nicht aus dem Sprechen, sondern aus dem Hören hervorgehen". So wird auch "das Gehör ... das erste Geistorgan des Menschen" sein. "Richtig zuhören wird ein Weg zur geistigen Welt sein ... Mit dem Ohr der Seele sehen wir in den offenen Himmel hinein. Da wachsen Sehen und Hören ganz innig zusammen. Da keimen Imagination und Inspiration geschwisterlich miteinander auf" (ebd., 56ff).

Das "Hören" der biblischen Texte wird also von Bock mit der Stufe der "Inspiration" auf dem Steinerschen Weg gleichgesetzt. Durch sie wird "das Evangelienlesen und -hören, ohne Beeinträchtigung der gedanklichen Klarheit und Wachheit, wieder über die Ebene des bloß intellektuellen Denkens hinausgehoben" (ebd., 59).

Zusammenfassung

Wir fassen den Ertrag unserer Darstellung zusammen:

  1. Nach anthroposophischer Auffassung waren die Verfasser der biblischen Schriften - in unterschiedlichem Grad - in die antiken Mysterienkulte eingeweiht.
  2. Sie haben die biblischen Schriften geschrieben, um auch dem Leser den Weg der Einweihung bzw. der Erkenntnisse höherer Welten zu weisen.
  3. Durch das Leben des Christus Jesus ist die Einweihung der Verborgenheit und Innerlichkeit entrissen und - für jeden Suchenden sichtbar - auf den historischen, physischen Plan gehoben worden.
  4. Der Christus Jesus ist der "in einziggroßer Weise Eingeweihte", und das Kreuz von Golgatha ist der "in eine Tatsache zusammengezogene Mysterienkult des Altertums".
  5. Die Evangelien, die von dem Christus Jesus berichten, sind deshalb "sozusagen in Weltgeschichte umgesetzte Einweihungsvorschriften"; sie sind Mysterienmitteilungen im historischen Gewand.
  6. Die Einweihung wird aber darüber hinaus durch alle Bibeltexte ermöglicht, die auf eine "magische" oder "mantrische" Weise zur "Meditation" gebraucht werden können.
  7. Durch solche Meditation kommt es zur Entwicklung des inspirativen "Hörens" als Geistorgan, das den Weg zur "geistigen Welt" öffnet.

Theologische Kritik der anthroposophischen Auffassung

Der fremdreligiöse Hintergrund der anthroposophischen "Einweihung"

Unsere Kritik wird sich vor allem mit Steiners Betrachtung des "Christentums als mystische Tatsache" beschäftigen. Waren die biblischen Personen und Autoren wirklich Eingeweihte im anthroposophischen Sinn? Ist das Kreuz von Golgatha wirklich der "in eine Tatsache zusammengezogene Mysterienkult des Altertums"? Um diesen Fragen nachzugehen, müssen wir zunächst untersuchen, in welche "höheren Welten" der anthroposophische Eingeweihte denn eigentlich eindringt und wo die geistigen Wurzeln seiner Schau liegen.

Wir erinnern uns an Rittelmeyers Worte: "Erst wenn Zwischenreiche deutlich werden, in denen das Irdische zwar noch erdenähnlich, aber schon geistig, in denen das Geistige zwar schon erdennah, aber noch geistartig da ist, fängt das Verstehen an" (Rittelmeyer 1930, 69). Die Anthroposophie lehrt einen "Stufenbau" der Welt, an dessen unterem Ende die Materie und an dessen Spitze der reine Geist (= "Gott") steht. Die Zwischenreiche gelten als Übergangsstufen zwischen Geist und Materie mit unterschiedlicher stofflicher Dichte, die nach unten hin zunimmt. Die "Geist-Welt", der "Geist" oder "Gott" bleibt zwar "mit dem weitaus größten Teil über dem Menschen", ragt aber "mit einem kleinsten Teil" in den Menschen hinein." Es gibt "tatsächlich ein feines Element, eine feine Substanz, in der das Seelische webt und in das sich das Geistige gleichsam kleiden muß, wenn es zum Menschen kommen will ... Beobachtet man, wie nun das Geistige hineinstrahlt in das Seelisch-`Astrale', dann erst steht man der wirklichen geistigen Welt gegenüber" (ebd., 62.68). Religionsgeschichtliche Parallelen zu diesen Vorstellungen finden sich in der Stoa und - viel früher - im hinduistischen Sivaismus und Visnuismus. H. W. Schomerus schreibt:

"Es ist der Steinersche Gott vergleichbar mit den höchsten Göttern der theologischen Systeme des Sivaismus und Visnuismus, die an sich ebenso sehr transzendent sind wie das Brahman der Upanisaden oder das Vedanta, dann aber mit gewissen Bestandteilen ihres Wesens, mit ihrer Sakti, sich in die Welt hinabgesenkt haben" (Schomerus III/1933, 21f).

Der hinabgesenkte Teil dieses Gottes werde als eine "geheimnisvolle kosmische Kraftsubstanz" (die sogenannte Manakraft) erfahren, derer sich der Mensch "bemächtigen" müsse - und zwar durch "Hellseherorgane" (ebd., 22). Dazu dient im Hinduismus der Weg des Yoga. In Anlehnung daran wurden im Abendland verschiedene Wege der "Einweihung" entwickelt, etwa der "christlich­gnostische Weg" und der "christlich-rosenkreuzerische Weg", wie Steiner formuliert (94,276). Und er sagt: "Welcher Schulung Sie sich unterziehen, ist nicht entscheidend. Sie können auf allen drei Wegen Ihre Seelenkräfte entwickeln und Erkenntnisse der übersinnlichen Welt erlangen" (94,289).

Steiner empfiehlt somit das Beschreiten dieser Wege; er ordnet sie allerdings einem vergangenen Zeitalter (dem Zeitalter der Empfindungsseele) bzw. einem anderen kulturellen Umfeld (Indien) zu (vgl. 94,276). Er selber will einen Weg lehren, der dem Zeitalter der Bewußtseinsseele und der Situation des abendländischen Menschen angemessen ist. Grundsätzlich aber gilt, daß er in dieselbe "Seelen-" und "Geisterwelt" eindringen will wie "der Mystiker, der Gnostiker, der Theosoph" aller Zeiten und Religionen (600,13). Zudem behauptet er, auch die Personen und Verfasser der Bibel seien in diese Welt eingedrungen.

Die Konfrontation zwischen jüdisch-christlichem Gottesglauben und nichtchristlicher Religiosität

Solchen Ausführungen Steiners liegt die Ansicht zugrunde, daß zwischen biblischem Gottesglauben und nichtchristlicher Religiosität Kontinuität im Sinne einer evolutionären Diastase und Synthese der Religionen besteht. Sehr deutlich bringt diesen Ansatz Emil Bock zum Ausdruck, wenn er schreibt: "Es ist nicht wahr, daß die Frömmigkeit des Alten Testamentes im Prinzip und von Anfang an zur Naturreligion im Gegensatz stand." Erst mit Elias sei "die antiheidnische, jüdische Frömmigkeit" und damit "die weltgeschichtliche Antithese von Heidentum und Judentum" auf den Plan getreten. Diese Antithese werde durch das "recht verstandene Christentum", das als "Synthese ... über dem Gegensatz von Heidentum und Judentum" stehe, wieder abgelöst (III,176).

Hinter solchen Aussagen Bocks, die formal vom Hegelschen Dreischritt "These - Antithese - Synthese" beeinflußt sind, stehen folgende inhaltlichen Deutungen der Begriffe "Heidentum", "Judentum" und "Christentum": Heidentum sei "Naturreligion", Judentum sei (verinnerlichte) "Seelenreligion", und Christentum sei die Verbindung von beidem, "da doch sein Blick und seine Verehrung dem hohen göttlichen Wesen gelten, das sich auf seiner Wanderung zur Erde den Menschen zuerst aus den Naturreichen und dann, als die Zeit seiner Menschwerdung schon näher herbeigekommen war, aus dem menschlichen Seelenraum geoffenbart hat" (III,176).

Diese anthroposophische Vorstellung einer Kontinuität zwischen den Religionssystemen steht ganz offensichtlich in der Tradition des "Modells der entwicklungsgeschichtlichen Kontinuität" ("Evolutionsmodell") wie es - mit gewissen Variationen - Schleiermacher und Troeltsch vertreten haben. Die Nähe der führenden Anthroposophen zu diesen theologischen Richtungen ist in den biographischen Darstellungen (Steiner, Bock, Fieling) tatsächlich immer wieder deutlich geworden. Kennzeichnend für dieses Modell ist, daß religiöses Bewußtsein "keine zeitlose Vernunftwahrheit", sondern "eine anthropologische Grundstruktur [ist], die sich in konkreten religiösen Gestaltungen geschichtlich entwickelt. Christlicher Glaube verhält sich zu außerchristlichen Religionen wie die definitiv oder schließlich nur relativ (Troeltsch) reifste Stufe zu weniger reifen Stufen in der geschichtlichen Entfaltung des religiösen Bewusstseins“ (Joest 1981, 93).

Dieses Modell hat jedoch vielfach - und m. E. zu Recht - Widerspruch hervorgerufen. Der Widerspruch gipfelt darin, daß zwischen biblischem Gottesglauben und nichtchristlicher Religiosität im tiefsten Grunde nicht Kontinuität, sondern Diskontinuität und Konfrontation besteht. So spricht Gerhard von Rad (I/1982, 216.220f) von "Jahwes Eiferheiligkeit" und bezeichnet als "das Eigentümlichste an Israels Kultus" den "schroffen Ausschließlichkeitsanspruch Jahwes im ersten Gebot ... Dieser intolerante Ausschließlichkeitsanspruch ist religionsgeschichtlich ein Unikum, denn die antiken Kulte waren gegeneinander duldsam und ließen den Kultteilnehmern freie Hand, sich zugleich auch noch bei anderen Gottheiten einer Segnung zu versichern.“

Der Ausschließlichkeitsanspruch Jahwes, der automatisch die Verwerfung der Götter und magisch-mantischen Praktiken der heidnischen Kulte einschließt, zieht sich wie ein roter Faden durch die alttestamentlichen Schriften. Er wird an wichtigen Stellen immer wieder besonders betont, so etwa im Heiligkeitsgesetz (Lev 19), im Sch`ma Jisrael (Dtn 6,4), im antibaalistischen Kampf des Elia (1.Kön 18), in der Wiederherstellung des Jahwedienstes durch Josia (2.Kön 23), in der Götzenpolemik der großen Schriftpropheten (z.B. Jes 44,9-20; Jer 10,1-14) usw.

Im Neuen Testament tritt nun nicht, wie E. Bock meint, eine "Synthese" zwischen "Judentum" und "Heidentum" ein, sondern Jesus als der zwar erwartete, aber von vielen nicht erkannte Messias und Gottessohn steht in unüberbrückbarem Gegensatz zu den fremdreligiösen Göttern. Der Absolutheitsanspruch Jesu, der alleinige Offenbarer Gottes und einzige Weg zum Heil zu sein, wird - etwa in den johanneischen "Ich-bin"-Worten - mit Bestimmtheit zum Ausdruck gebracht. Die Aufrichtung der Herrschaft Christi geht einher mit der Entmachtung der anderen Götter, die im Neuen Testament nicht als Vorläufer Christi, sondern als gottfeindliche "Mächte" und "Dämonen" bezeichnet werden (vgl. 1. Kor 10,20; 2. Kor 6,14-17; Kol 12,15).

Treffend weist diesbezüglich der Religionswissenschaftler Hendrik Kraemer (1940, 113f) nach, daß "der Ausdruck Erfüllung" im Sinne einer ungebrochenen Kontinuität "nicht anwendbar [ist] auf das Verhältnis der nichtchristlichen Religionen zu der Offenbarung in Christo". Zwar gibt es in den nichtchristlichen Religionen "Strebungen, Sehnsüchte und Schauungen ... die in Christo ihre Erfüllung finden", aber diese "Erfüllung" in Christus geschieht nur durch "Bekehrung und Wiedergeburt", also durch einen Bruch mit dem alten Leben und Denken, mit der alten Götterverehrung, hindurch. Die "Erfüllung" in Christus widerspricht nämlich der "Selbstbehauptung" als Sünde, die in den nichtchristlichen Religionen zum Ausdruck kommt.

Auch Karl Heim (1986, 15ff.117f) erblickt hinter "dem ganzen Heidentum in allen seinen Abwandlungen ... immer die eine Grundsünde des Menschen, die Konzentration auf sich selbst", bei der der Mensch - etwa durch religiös verbrämte Magie und Zauberei - "Gott und die göttlichen Kräfte für sich zur Erfüllung seines eigenen Lebenshungers ausnützen" will. Dieser "Anthropozentrismus" verbindet sich häufig - insbesondere in den fernöstlichen Religionssystemen - mit einem "naturalistischen Monismus", der in Gegensatz zum biblischen "Theozentrismus" und "Dualismus" tritt. Beide Anschauungen lassen sich - auch durch ein quantitativ-evolutionäres Stufenschema - nicht miteinander verbinden, sondern stehen in qualitativer Unterschiedenheit einander gegenüber. Da sich die anthroposophische Gottesvorstellung, wie gezeigt, unter anderem aus hinduistisch-monistischen Systemen speist, trifft diese Kritik demzufolge auch sie.

Das Wesen der nichtchristlichen Religiosität läßt sich u.E. am besten mit dem "tripolaren Verständnis" beschreiben, wie es - anknüpfend an Karl Heim und Walter Freytag –der Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus (1987, 101ff; KuD 1969, 102f; KuD 1989, 116ff) entwickelt hat. Monopolar ist nach Beyerhaus das "rein anthropologische Religionsverständnis" im Gefolge Ludwig Feuerbachs, welches Religion nur auf das "religiöse Bewußtsein oder die transzendentale Orientierung des Menschen selber", nicht jedoch auf eine "objektive transzendente Wirklichkeit" bezieht. Bipolar ist ein Verständnis, das dem Menschen ein "reales transzendentes Gegenüber" gibt, zu dem er sich dialektisch verhält: einerseits nach ihm suchend, andererseits gegen es rebellierend. Tripolar ist ein Verständnis, das mit der Ambivalenz dieser transzendenten Größe rechnet:

"Es wird allzu selbstverständlich vorausgesetzt, da8 der transzendente Bezugspunkt der Religion Gott selbst sein müsse. Das ist aber nach der Deutung der Religion, wie sie Paulus in 1. Kor 10,20 und 2. Kor 6,14-17 gibt, keineswegs als immer bewiesen anzusehen. Der transzendente Bezugspunkt des heidnischen Kultus können auch die Dämonen sein" (Beyerhaus, in: KuD 1969, 103).

Im Kult nichtchristlicher Religionen konkretisiert sich "die dämonisch inspirierte Ursünde des Menschen, sich der Kräfte der Gottheit habhaft zu machen, ja sich selber zu vergotten, in gleichzeitiger Selbstbehauptung und Nichtachtung des Anspruches, welchen der Schöpfer an ihn stellt“ (Beyerhaus in: KuD 1989, 122).

Ist das aber der Fall - und m. E. spricht der biblische Befund für diese Feststellung -, dann kann keineswegs von Kontinuität, sondern höchstens von einer "positiv anknüpfenden Konfrontation" (vgl. z.B. Apg 17,22ff) zwischen biblischem Gottesglauben und nichtchristlicher Religiosität geredet werden, die in der missionarischen Verkündigung ihren Zielpunkt hat:

"Theologisches Verstehen der Religionen im Lichte des Evangeliums geschieht zuerst und zuletzt `um der Mission willen', es geht um die Ausrichtung des der Gemeinde Jesu Christi aufgetragenen Zeugnisses unter allen Völkern“ (ebd., 126).

Aus dem Gesagten ergibt sich: Die Verfasser der Bibel lassen sich in keiner Weise mit "Eingeweihten" der antiken Mysterien identifizieren oder auch nur in Verbindung bringen. Sie sind keine Eingeweihten; ihre Schriften sind keine Einweihungsbücher. Und das Kreuz von Golgatha ist nicht der Gipfelpunkt heidnischer Mysterienweisheit, sondern der schroffe Gegensatz dazu:

"Die Menschwerdung einer göttlichen Gestalt und erst recht ihr schimpflicher Tod am Fluchholz war... kein ' Anknüpfungspunkt' , sondern ein 'Skandalon', ein Stein des Anstoßes ... der Gekreuzigte war für einen antiken Menschen von Bildung und Rang nur Ausdruck der Torheit, Schande und Häßlichkeit" (Hengel 1975, 66f).

Zum Gegensatz zwischen frühem Christentum und antiken Mysterien

Schließlich ist Steiners Auffassung von den antiken Mysterien und deren Beziehung zum Christentum kritisch zu hinterfragen. Offensichtlich besitzt er nur unzureichende Kenntnisse darüber, denn die antiken Mysterien waren nicht geistige Bewegungen, sondern Rituale mit magischen Handlungen, welche aus älteren Vegetationskulten erwuchsen. Die Behauptung einer Abhängigkeit des frühen Christentums von antiken Mysterienkulten darf heute als überholt gelten. Der Neutestamentler Martin Hengel (ebd., 41ff) führt aus:

"Die ständig wiederholte Meinung, die Entwicklung der Sohn-Gottes-Christologie sei ein typisch hellenistisches Phänomen und bedeute einen Bruch im Urchristentum, hält näherer Nachprüfung kaum stand. So kannten die hellenistischen Mysterien weder sterbende und wiederauferstehende Göttersöhne, noch wurde der Myste selbst zum Kind des Mysteriengottes. Sterbende Vegetationsgötter wie der phönizische Adonis, der phrygische Attis oder der ägyptische Osiris hatten keine Gottessohnfunktion. Man betrachtete sie in der Spätantike häufig als Menschen der mythischen Urzeit, denen - ähnlich wie Herakles - nach ihrem Tode Unsterblichkeit geschenkt wurde ... Keiner der sterbenden Vegetationsgötter ist 'für' andere Menschen gestorben."

Nach Hengel (ebd.) sind die Mysterien "ursprünglich eine typisch griechische Form der Religiosität, die in hellenistischer Zeit erst in die unterworfenen orientalischen Gebiete 'exportiert' werden mußte". Er zitiert L. Vidman: "Die große Woge der orientalischen Mysterienreligionen beginnt aber erst in der Kaiserzeit, vor allem im II. Jahrhundert..." Demzufolge - so Hengel - war "das im 2. Jh. n. Chr. schon recht verbreitete und gefestigte Christentum ... zwar schärfster Konkurrent, aber kaum mehr Objekt synkretistischer Überfremdung". Wir wissen "über die Verbreitung von Mysterienkulten im Syrien der 1. Hälfte des 1. Jh.s v. Chr. nahezu nichts. Es gibt keinerlei Beweise dafür, daß sie dort um diese frühe Zeit besonders verbreitet waren und starken religiösen Einfluß besaßen. Man sollte umgekehrt bei den späteren Mysterienbelegen aus dem 3. u. 4. Jh. n. Chr. eher mit christlicher Beeinflussung rechnen."  Während die "'Hellenisierung' der Christologie ", die im 2. Jahrhundert einsetzte, "zum Doketismus führen" mußte, sind die Quellen für das frühchristliche Denken in Wirklichkeit "im antiken Judentum" zu finden.

Auf "Lazarus-Johannes" und Paulus, die in der Anthroposophie als Musterbeispiele für "Eingeweihte" gelten, bin ich in gesonderten Artikeln eingegangen (Johannesevangelium, Paulus).

Der hinduistisch-magische Hintergrund der anthroposophischen "Meditation"

Nun aber bleibt die Frage: Sind die biblischen Texte "Meditationstexte" im anthroposophischen Sinn? Oder verbirgt sich auch hinter dieser Bibelbetrachtung im Grunde ein fremdreligiös geprägtes Verständnis? Konkret: verbergen sich hinter dem Reden von einer "magischen Wirkung" (Steiner), einem "mantrischen Wert" oder einem inspirativen "Hören" des Wortes (Bock) Einflüsse der hinduistischen Mantra-Technik?

H. E. Miers nennt in seinem "Lexikon des Geheimwissens" (1986, 269) vier Bedeutungen des Sanskrit-Wortes "Mantra" (oder "Mantram"):

  1. Mantras sind "Verse aus den Veden, die als Beschwörungs- oder Zauberformeln verwendet werden".
  2. Es sind im engeren Sinne "alle solche [sic] Teile der Veden, welche nicht als Brahmanas (= Erklärungen) bezeichnet sind".
  3. In der Esoterik bedeutet Mantra "das fleischgewordene Wort, das durch göttliche Magie objektiv (sinnlich wahrnehmbar) Gemachte".
  4. Wichtig ist die vierte - mehr grundsätzliche - Definition: Mantra ist "eine Vereinigung rhythmisch angeordneter Wörter oder Silben, die, wenn sie laufend gesprochen werden, auf höheren Ebenen bestimmte Schwingungen hervorbringen".

"Rhythmisch angeordnete Wörter" finden sich nicht nur in den Veden, sondern auch in der Bibel in Form vieler durchkomponierter Texte (Gebete, Weisheitssprüche, Hymnen). Diese werden von abendländisch-esoterischen Bewegungen daher häufig für den mantrischen Gebrauch herangezogen. Miers (ebd.) erwähnt die Vorliebe der Freimaurer für die Psalmen und die salomonischen Bücher (Prediger, Hoheslied, Sprüche) sowie die Vorliebe der Rosenkreuzer für den Anfang des Johannes-Evangeliums und einige Passagen der Offenbarung.

Was geschieht bei einem mantrischen Gebrauch von Silben, Wörtern oder Texten? Es wird angenommen, daß das Wort eine Eigenmächtigkeit gewinnt und dem, der es in der richtigen Weise gebraucht, Macht über Vorgänge, Menschen und sogar Götter verleiht. Klostermaier (1965, 69) beschreibt diesen Sachverhalt so:

"Einmal gegeben, ist das Wort selbst-tätig und dem Einfluß dessen entzogen, der es gab. Der Gott ist dem von ihm gegebenen Wort gegenüber machtlos ... Die Götter sind nur nötig in einem rein formalen Sinne. Das Wort war im Anfang, es war nicht das Wort Gottes und nicht auf Gott zu - es war nicht Gott. Es war Macht, der auch der Gott gehorcht. Religion gibt dem Menschen die Mittel, über diese Macht zu verfügen ... Es ist eine Wort-Religion, die zur Wort-Magie wird.“

Zusammengefaßt: Es ist nicht der Sinn der Worte, der eine Wirkung hervorbringt. Es ist auch nicht "eine Gottheit", die eine Wirkung hervorbringt. Die Wirkung erzeugt "der Mantra als solcher, die genaue Aufeinanderfolge von bestimmten Buchstaben in bestimmter Art und Weise" (ebd., 62).

Wir verstehen nun, was E. Bock damit meinte, daß man "durch das Ertönenlassen der heiligen Texte ein geistiges Fluidum herbeisprechen zu können" glaubte und daß die Tatsache, "daß" Gott sprach, wichtiger war als das, "was" er sprach (s. o.). Nicht Gott, sondern das selbsttätige Wort gilt als eigentlich wirkende Ursache.

Im Blick auf die heutige Anthroposophie wäre demnach zu folgern: Nicht ein "Gott", sondern der formelhafte - "mantrische" oder "magische" - Gebrauch von Symbolen, Wörtern oder Texten (auch Bibeltexten) öffnet dem "Geistesforscher" den Weg in die übersinnlichen Welten. Das "Wort" dient als Mittel, um sich der "göttlich-geistigen Welt" zu bemächtigen. Der Verlauf des Steinerschen Erkenntnisweges (Erkenntnisse höherer Welten) bestätigt diesen Schluß.

Die Unvereinbarkeit der anthroposophischen "Meditation" mit dem christlichen Verständnis von „Gebet“

Eine solche Bemächtigung der "göttlich-geistigen Welt" durch einen formelhaften Gebrauch von Worten oder Texten ist mit der Personalität und Souveränität des sich selbst offenbarenden Gottes unvereinbar. In Mt 6,7 werden die - vom Ziel her gesehen mit den anthroposophischen Methoden durchaus vergleichbaren - wortmagischen Gebete und Vorstellungen (das "Plappern" und "Viele-Worte-Machen") der Heiden abgelehnt:

"Der Vorstellung, daß Gott/die Götter unberechenbare, durch magische Kräfte beeinflußbare Wesen sind, wird die Vorstellung eines Gottes gegenübergestellt, der um die Nöte des Menschen im vorhinein weiß und `euer Vater' genannt wird" (Gnilka I/1986, 210).

Gott ist kein unpersönliches "Es", das sich magischen Techniken fügt, sondern ein persönliches "Du", das dem Menschen selbständig gegenübertritt und ihn anredet. Es ist deshalb sehr wohl entscheidend, was Gott spricht. Gottes Wille wird nur durch seine Offenbarung im Wort erkannt.

Auch Klostermaier (1965, 73) weist auf den "großen Unterschied zwischen der biblischen und hinduistischen Auffassung" hin. Für die biblische Auffassung ist kennzeichnend, daß "das Wort nicht eine eigene unabhängige Existenz und Wirkung hat, sondern immer als Wort Gottes wirkt ... Nicht der `Mantra' wirkt, sondern Gott im Wort ... Das Wort ist nie mechanisch wirksam - immer nur persönlich. Gott ist nie das Objekt der religiösen Akte, sondern immer das Subjekt."

Der Gebrauch von Bibeltexten als formelhafte "Meditationstexte" nach hinduistischem Vorbild in der Anthroposophie widerspricht somit dem biblischen Schriftverständnis. Ein solcher Gebrauch kann nur als Mißbrauch gekennzeichnet werden.

Zusammenfassung

  1. Der von der Anthroposophie vertretene Einweihungsweg hat - wie die Anthroposophie insgesamt - einen fremdreligiösen Hintergrund. Wesentliche Elemente bezieht er aus hinduistischen Systemen (Hinduismus).
  2. In den biblischen Schriften findet sich hingegen durchgehend die radikale Abgrenzung des jüdisch-christlichen Gottesglaubens von fremdreligiösen Systemen, Praktiken und Einweihungswegen. Biblisch-christlicher Glaube steht zu nichtchristlichen Religionen nicht im Verhältnis der Kontinuität, sondern der - wenn auch gelegentlich zu missionarischen Zwecken positiv anknüpfenden - Konfrontation.
  3. Es ist deshalb eine innere Unmöglichkeit, die Personen und Verfasser der Bibel als Eingeweihte im Sinne solcher Religionen und Mysterienkulte zu betrachten, wie die Anthroposophie es tut. Die biblischen Schriften sind keine Einweihungsbücher.
  4. Ebensowenig sind einzelne biblische Texte Meditationstexte, die zur Bemächtigung der göttlich-geistigen Welt im anthroposophischen Sinn führen würden. Hier wird die hinduistische Mantra-Technik mit ihrem unpersönlich-magischen Gottesbild auf die Bibel übertragen - ein Gottesbild, das zum jüdisch-christlichen Glauben an einen persönlichen, souveränen Gott in unüberbrückbaren Gegensatz tritt.

Die Bibel als zeitbedingte und relative Größe

Darstellung der anthroposophischen Auffassung

Die bisherige Darstellung hat bereits gezeigt: Nicht die Bibel, sondern die Akasha-Chronik ist Basis und Ausgangspunkt für Steiners Erkenntnisse. Der Grund dafür: Steiner betrachtet die Akasha-Chronik - wenigstens prinzipiell - als überzeitlich und absolut, die Bibel hingegen als zeitbedingt und relativ. Mit dieser Ansicht, ihrer Begründung und ihren Folgen werden wir uns nun beschäftigen.

Die Lehre von der "fortschreitenden Offenbarung"

Nach Steiners Auffassung erfaßt die Bibel nur eine bestimmte, eng begrenzte Epoche der Weltentwicklung, nämlich einen Teil des "Erdenzeitalters". Die Entwicklung geht jedoch von Epoche zu Epoche weiter, so daß "immer neue Offenbarungen" notwendig sind und man nicht am "Buchstaben" als Niederschlag einer zu einer bestimmten Zeit geschehenen Offenbarung hängen bleiben darf. Der Buchstabenglaube, der sich an den biblischen Wortlaut klammert, wird ohnehin überflüssig, weil im 1899 angebrochenen "Zeitalter des Geistes" immer mehr Menschen das "Äthersehen" erlangen werden, also direkt in der Akasha-Chronik lesen können (118,123ff.176ff). Im Blick auf eine zersetzende Bibelkritik tritt Steiner gewissermaßen die "Flucht nach vorn" an (vom "Buchstaben" bzw. der Historie zum "Geist" bzw. Schauen), wenn er (im Jahr 1910) sagt:

"Denn in den nächsten zwei Jahrzehnten werden die Menschen dann immer mehr und mehr von dem Buchstaben der Evangelien abfallen, sie werden sie nicht mehr verstehen ... Die historischen Dokumente werden für die Menschheit an Wert verlieren, die Zahl derer, die den Christus Jesus leugnen, wird immer größer und größer ... Der geistige Beweis des Christus Jesus wird dadurch geliefert werden, daß gehegt werden die Fähigkeiten der Menschen, daß sie schauen sollen den wahrhaft vorhandenen Christus in seinem Ätherleib" (118,124).

"Nicht, damit wir festhalten an den wenigen Worten der Evangelien, die in dem ersten Jahrzehnt der Begründung des Christentums gesprochen worden sind", ist nach Steiner "der Heilige Geist herniedergegossen worden", sondern darum ist er ergossen worden, daß "immer Neues und Neues die Botschaft des Christus erzählen kann". "Je nachdem die Menschenseelen von Epoche zu Epoche, von Inkarnation zu Inkarnation vorschreiten, muß immer Neues für die Menschenseele gesagt werden" (118,177). Seine Lehre von der "fortschreitenden Offenbarung", die durch das "Äthersehen" bzw. Lesen in der Akasha-Chronik erfaßt wird, will Steiner durch biblische Aussagen bestätigt wissen. Er stützt sich v. a. auf Joh 16,12; 20,30f und 21,25 sowie auf das Pfingstereignis in Apg 2 (mit seinem "Pfingstimpuls" eines fortwährenden Geisteswirkens) und das (neu übersetzte) Wort des auferstandenen Christus in Mt 28,20:

"'Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Erdenentwickelung!' Wenn ihr euch erfüllt mit dem Christus-Impuls, könnt ihr das Wort, das angeregt worden ist durch den Stifter bei der Begründung des Christentums, forthören durch alle Epochen, das Wort, das der Christus spricht zu allen Zeiten, weil er bei den Menschen ist zu allen Zeiten, hörbar für die, welche ihn hören wollen. So fassen wir die Kraft des Pfingstimpulses auf als etwas, was uns ein Recht gibt, das Christentum als ein immer wachsendes anzusehen, das uns immer neue Offenbarungen gibt" (118,177f).

Die Lehre von der "direkten Offenbarung"

Am Beispiel des Pfingstereignisses will Steiner erklären, wie diese "Offenbarungen" zustande kommen:

"Und die ersten Versteher des Christus fühlten sich durch das Pfingstereignis berufen, zu verkündigen, was in ihrer eigenen Seele war, was sich ihnen offenbarte in ihren Offenbarungen und Inspirationen der eigenen Seele als der Inhalt der Christus-Lehre ... Nicht etwa bloß das, was der Christus ihnen gesagt hat; nicht allein diejenigen Worte, welche der Christus gesprochen hatte, erkannten sie an, die so den Sinn des Pfingstereignisses verstanden, sondern das erkannten sie an als Christus-Worte, was aus der Kraft einer Seele kommt, die den Christus-Impuls in sich fühlt" (118,176f).

Der "Christus-Impuls" also ist entscheidend, den die einzelne Seele in sich fühlt - eine "Offenbarung", die sich direkt von der übersinnlichen Sphäre des Christus in die Seele ergießt, so daß ein geschriebenes Wort als Zwischenstufe mehr und mehr überflüssig wird. Die Lehre von der "fortschreitenden Offenbarung" enthält somit als entscheidenden Faktor die Lehre von der "direkten Offenbarung".

Die Lehre von der "direkten Offenbarung" findet sich in vielfältigen Variationen bei Mystikern und religiösen Spiritualisten aller Zeiten, so etwa bei den Montanisten, bei verschiedenen gnostischen Gruppen (Gnosis), bei Meister Eckhardt, bei verschiedenen "Schwärmern" der Reformationszeit sowie bei Gruppen und Einzelpersonen der Neuzeit und Gegenwart. Der immer gleichbleibende Zug ist die Behauptung eines unmittelbaren "Offenbarungsempfangs" durch Visionen, höhere Erkenntnisse, Vereinigung mit dem Göttlichen usw. Dieser "Offenbarungsempfang" rückt die in den neutestamentlichen Schriften festgehaltene Grundtradition der ersten, man könnte auch sagen: apostolischen Zeugen als Vermittler der Offenbarung an die zweite Stelle (sie dient nur noch zur Bestätigung des unmittelbar "Geschauten") oder macht sie sogar überflüssig (nämlich dann, wenn die unmittelbare Erkenntnis des Geistigen, das "Zeitalter des Geistes" u. ä. kommt). So bemerkt Kurt Hutten:

"Es wiederholt sich dann, wie die Erfahrung zeigt, immer derselbe Vorgang: Die `Ergänzung' wird zum Prokrustesbett, auf das die Schrifttexte gespannt werden. Was nicht zur neuen Lehre paßt, wird ausgeschieden oder umgebogen oder als überholt bezeichnet" (Hutten 1968, 359).

Zusammenfassung

  1. Die anthroposophische Bibelauslegung betrachtet die Bibel als zeitbedingt und relativ in dem Sinne, daß diese nur die Offenbarungen einer "bestimmten Epoche" im Entwicklungsgang der Menschheit erfaßt und daß dieser Epoche "geistige Grenzen" gesetzt sind.
  2. Der auferstandene Christus gibt aber durch seinen Geist von Epoche zu Epoche neue Offenbarungen, die nicht durch das Kleben am "Buchstaben" der Bibel, sondern nur "geistig" erfaßt werden können. Im "Zeitalter des Geistes" geht die "Buchstabenreligion" zu Ende.
  3. Die Anthroposophie vertritt somit die Lehre von einer "fortschreitenden Offenbarung", die mit der Lehre von der "direkten Offenbarung" gekoppelt ist.

Theologische Kritik der anthroposophischen Auffassung

Die Einheit von Wort und Geist

Während der Spiritualismus den Geist vom Wort lösen will, sind Wort und Geist in biblisch-theologischer Sicht eine Einheit. Wort und Geist können nicht - wie bei Steiner - gegeneinander ausgespielt werden, sondern "Gott gibt seinen Geist nicht anders als so, daß das äußere Wort vorangeht; also nicht unmittelbar, 'ohn Mittel', sondern mittelbar" (Althaus 1980, 43; unter Bezugnahme auf: Luther, WA 18, 695, 28ff). Wäre der Geist nicht mehr an das durch die Überlieferung der prophetischen und apostolischen Zeugen entstandene Bibelwort gebunden, dann wäre der Willkür, der Uneindeutigkeit und damit der Heillosigkeit Tür und Tor geöffnet. Gott aber "will, daß alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1. Tim 2,4) - und das kann nur ermöglicht werden, wenn die Offenbarung Gottes innerlich klar und eindeutig ist. Mit Luther sprechen wir deshalb von einer "litera spiritualis", einem geisthaltigen Wort und einem wortgebundenen Geist. Eine "direkte Offenbarung", ein Sprechen des Geistes Gottes unter Umgehung dieses äußeren Bibelwortes, ist somit mit dem biblisch-reformatorischen Schriftverständnis unvereinbar.

Die abgeschlossene Offenbarung des göttlichen Heilsplans

Karl-Heinz Schlaudraff (1988, 242) stellt im Anschluß an Martin Hengel fest: "Paulus wie dem Urchristentum insgesamt war die Universalgeschichte vom Weltanfang bis zum Weltende durch die atttestamentlich-jüdische Apokalyptik vorgegeben." Diese Offenbarung ist mit der Sendung und Verkündigung Jesu Christi zu ihrem Höhepunkt und Abschluß gekommen (vgl. Gal 4,4; 1. Kor 4,6; Hebr 1,1f; 2. Joh 9f; Offb 22,13.18f.). Deshalb gilt:

"Die Heilsgeschichte selbst geht, allerdings nur noch als Entfaltung des Christusgeschehens, weiter, aber die durch Ereignis und Deutung gebotene Offenbarung über den göttlichen Plan, nach dem sich die Heilsgeschichte entwickelt hat und weiter bis zum Ende entwickeln wird, ist abgeschlossen"(O. Cullmann 1967, 269f).

Ihre Begrenzung ist nach Cullmann "gleichbedeutend mit der Fixierung des Kanons" (ebd.). In den neutestamentlichen Schriften ist somit alles enthalten, was für das Heil und ewige Leben des Menschen notwendig ist. Deshalb kommt es den neutestamentlichen Autoren gar nicht so sehr auf eine lückenlose Schilderung der Ereignisse an, sondern es genügt die Darstellung dessen, was zur Weckung und Stärkung des rettenden Glaubens führt (vgl. Joh 20,30f). Von daher wird deutlich, warum sich in den Evangelien z. B. keine Berichte über das Leben Jesu zwischen seinem zwölften und seinem dreißigsten Lebensjahr finden. Sie sind für den Glauben ohne Belang. Steiner hingegen bringt in Form seines "Fünften Evangeliums" sehr ausführliche "Schilderungen" aus dieser Zeit, die er der "Akasha-Chronik" entnimmt (vgl. 148,9ff).

Das Kriterium der lehrmäßigen Kontinuität zur neutestamentlichen Überlieferung

Es ist hier nun nicht der Ort, um die Kanonproblematik in ihrer Breite zu entfalten. Nur soviel sei im Blick auf die anthroposophischen Neuoffenbarungen festgestellt: Sie vermögen dem entscheidenden altkirchlichen Kanonkriterium der Apostolizität oder Urkirchlichkeit in keiner Weise zu entsprechen. Das verhindert bereits der zeitliche Abstand. Diesen Abstand versucht Steiner zwar durch seine Schauungen in der Akasha-Chronik zu überspringen, doch ist seine diesbezügliche Argumentation weder in empirischer noch in theologischer Hinsicht überzeugend.

Noch wichtiger ist freilich die Frage, ob die Steinerschen Neuoffenbarungen in Einklang mit der Glaubensregel stehen, die sich aufgrund der rezipierten Tradition aus apostolischer und urkirchlicher Zeit ergibt. Wilfried Joest (1981, 166) formuliert dieses Kriterium so:

"Ist auch die Schrift Tradition, so spricht in ihr eben die maßgebende Grundtradition, an der alle weitere zu messen ist."

Die entscheidende Frage ist also, ob die anthroposophischen Neuoffenbarungen mit den Aussagen der in den alt- und neutestamentlichen Schriften bezeugten "Grundtradition" übereinstimmen oder ob hier Widersprüche auftreten. Zumindest müßte zwischen "alter" und "neuer" Offenbarung eine Kontinuität erkennbar sein. Versteht sich nämlich Steiners Christosophie "zu Recht als eine Ergänzung des in der Bibel Gesagten, zu Recht als ein neues Wort des Herrn, der als der erhöhte zugleich der gekreuzigte und auferstandene Herr ist, dann müßte das Wesen der neuen Offenbarung der bereits ergangenen innigst verwandt sein, dann müßte sich in der fortgeschrittenen Erkenntnis wiederfinden lassen, was als Ansatz oder Wurzel im Neuen Testament vorhanden wäre" (K. v. Stieglitz 1955, 183). Der ausführlichen Untersuchung dieser Frage dienen die Artikel: Gottesbild, Reinkarnation, Christosophie, Johannesevangelium und Paulus.

Die Unhaltbarkeit der anthroposophischen "Belegstellen"

Hier ist die Behauptung Steiners zu prüfen, daß im Neuen Testament selber von einer "fortschreitenden Offenbarung" die Rede sei. Wir betrachten dazu die von Steiner herangezogenen Hauptbelegstellen im einzelnen.

Nach Mt 28,20 verheißt der auferstandene Christus seinen Jüngern, daß er "alle Tage bis an das Ende der Weltzeit (aion)" bei ihnen ist. Steiners Übersetzung "bis an das Ende der Erdenentwickelung" (118,177) trägt die anthroposophische Lehre von den sieben aufeinander folgenden Entwicklungsepochen der Erde (s. Anthroposophie) allegorisch in den Bibeltext hinein. Sie läßt sich mit der neutestamentlichen Äonenlehre nicht in Einklang bringen, die in einer ganz anderen Art zwischen zwei Äonen, nämlich dem bösen Äon der Sünde und dem in diesen hineinragenden und mit Christus bereits angebrochenen guten Äon des neuen Lebens, unterscheidet (vgl. Mt 12,32; Gal 1,4 u.ö.). Entscheidend ist nun aber, daß im Kontext von Mt 28,20 mit keinem Wort von neuen Offenbarungen die Rede ist. Den Jüngern wird ganz im Gegenteil aufgetragen, nur das zu lehren, was Jesus ihnen "befohlen" hat, also das, was sie zu seinen irdischen Lebzeiten gehört haben. Es geht um die "Bewahrung der Lehre" bis zur Parusie, wobei die in Jesu Vollmacht ausgesendeten Jünger seines Beistandes gewiß gemacht werden.

Ähnliches gilt für Joh 16,12. "Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen" - diese Worte sind aus der Abschiedssituation heraus formuliert und können nur im Zusammenhang mit den daran anschließenden Aussagen über den Parakleten (Joh 16,13-15; s. auch Joh 14,26; 15,26) richtig verstanden werden. In der Verkündigung des Geistes wirkt Jesu Botschaft weiter.

Wenn Steiner mit den in Joh 20,30f und 21,25 erwähnten Lücken in der Berichterstattung neue Offenbarungen rechtfertigen will, dann verfehlt er den an diesen Stellen zum Ausdruck kommenden Skopus. Dieser Skopus besteht gerade nicht darin, ein möglichst lückenloses Bild vom Leben Jesu zu zeichnen; sondern darin, beim Leser den lebenbringenden Glauben zu ermöglichen, zu wecken, zu stärken und zu vertiefen. Zu Recht betont R. Schnackenburg (III/1976, 405), daß es für Joh "keine Christologie losgelöst von der Soteriologie" gibt.

Das in Apg 2 geschilderte Pfingstereignis schließlich muß in seiner heilsgeschichtlichen Besonderheit und Einmaligkeit ernstgenommen werden. Es sollte "nicht als Norm, sondern als Ausnahme gelten, nämlich als eine besondere Manifestation des Geistes, die der Urgemeinde in Jerusalem zum Durchbruch verhalf“ (ebd., 386). Eine darüber hinausgehende Deutung wird dem Text nicht gerecht.

Damit soll nicht bestritten werden, daß es ein Wirken des Geistes Gottes über die apostolisch-urkirchliche Zeit hinaus gibt, ganz im Gegenteil, doch sind zu seiner Beurteilung die oben genannten Kriterien anzuwenden.

Das Scheitern der anthroposophischen Kriterien zur Prüfung neuer "Offenbarungen"

Nun wird von anthroposophischen Auslegern klar gesagt, daß für sie die biblische "Grundtradition" nicht der ausschlaggebende Maßstab zur Prüfung neuer "Offenbarungen", "Anschauungen" oder "Vorstellungen" ist. "Es kommt schließlich nicht darauf an, ob eine Vorstellung 'platonisch' oder 'biblisch', sondern ob sie 'richtig' ist", schreibt etwa R. Frieling (1974, 53). Als "richtig" gilt eine Vorstellung, wenn sie durch die "Menschheits-Erfahrung" gesichert ist, was Frieling am Beispiel außerkörperlicher Zustände beweisen will: "Daß die Seele sich auch schon vor dem Tode mehr oder weniger vom Erdenkörper freimachen kann, ist uralte Menschheits-Erfahrung" (ebd.).

F. Rittelmeyer (1930, 87f) nennt einen ganzen Stufenweg zur Prüfung neuer "Offenbarungen ". Zunächst bezeichnet er es als "unzulässig", eine neue "Offenbarung" deshalb abzulehnen, weil "Bibelworte fehlen". Dann beschreibt er die einzelnen Stufen des Prüfens:

  • Erste Stufe: Die neue Offenbarung soll "im praktischen Leben" erprobt werden, wobei sich dann zeigen wird, "ob sie mit der biblischen Offenbarungswahrheit zusammenstimmt oder ihr widerspricht".
  • Zweite Stufe: Wer "ganz bei der Bibel bleiben" will, soll auf "die feinen Töne" hören und "weniger nach beweisenden Sprüchen als nach inneren Harmonien" fragen. Dabei soll er sich der "geistigen Grenzen" des israelitischen Volkes und des griechisch-römischen Zeitalters bewußt bleiben, auf die die biblische Offenbarung gestoßen ist. Schließlich kann er mit Hilfe der neuen Offenbarungen zu einem neuen Verständnis der Bibel gelangen; denn die Bibel "wird nicht nur erkannt durch das, was in ihr spricht, sondern auch durch das, was für sie spricht".
  • Dritte Stufe: "Wem diese Probe auch noch nicht genügt, der versuche es mit dem inneren Weg der Nachbildung", d.h. einem direkten Nachvollzug von "Weltgeheimnissen" in der eigenen Seele. (Dieser Weg findet sich in der mittelalterlichen Esoterik: Der Makrokosmos / das Weltall spiegelt sich im Mikrokosmos / im Menschen wieder und kann auf diese Art erkannt werden.)
  • Vierte Stufe: "Wem diese Probe immer noch nicht genügt, der wird die Wege zum eigenen `Schauen' im Sinn der anthroposophischen Geisteswissenschaft suchen und prüfend gehen müssen." Nicht erst ein "voll erkennendes Schauen", sondern schon "ein erstes Aufleuchten von höheren Geisteseindrücken" bringt ihn "diesen Wahrheiten viel näher".
  • Fünfte Stufe: "Andernfalls bliebe ihm nichts übrig, als eben zu warten, bis genügend zuverlässige Menschen diese Einsichten aus eigener Erkenntnis bestätigen."

"Andre Wege wissen wir nicht: Diese aber wissen wir. Und sie sind noch nicht gegangen."

Mit diesen Sätzen beschließt Rittelmeyer die Darstellung seines Stufenweges der Erprobung. Rittelmeyer gibt damit selber zu, daß die hier genannten Stufen gerade kein objektiver und bewährter Maßstab zur Prüfung neuer Offenbarungen sind, sondern daß sie im Grunde alles offen lassen. Der "Prüfende" muß - wie bei Frieling - seine subjektive Erfahrung zum primären Maßstab machen (1. Stufe), muß die Bibel allegorisch interpretieren (2. Stufe), muß den Steinerschen Erkenntnisweg (4. Stufe) bzw. eine Vorform davon (3. Stufe) beschreiten oder gar die Erkenntnisse der "Schauenden" einfach übernehmen (5. Stufe). Auf die Zirkelschlußhaftigkeit, Systemimmanenz und theologische Unhaltbarkeit solcher Argumentationsmuster, die auf dem Steinerschen Dogmatismus beruhen, sind wir in den Artikeln Erkenntnisse höherer Welten und Akasha-Chronik ausführlich eingegangen.

Zusammenfassung

  1. Die Bibel ist zwar in Zeit und Raum entstanden und in ihren einzelnen Schriften nicht unabhängig von den zeitlichen und örtlichen Bedingungen, in denen diese verfaßt wurden, aber sie vermittelt gleichwohl das göttliche Wort, welches dem Glaubenden das Heil zuspricht und die gesamte "Heilsgeschichte" umfaßt.
  2. Gott hat sich durch seinen Geist an dieses Wort gebunden und damit dessen Gültigkeit bleibend festgelegt, um die Eindeutigkeit des Heilsweges in Christus zu gewährleisten. Wort und Geist sind eine Einheit.
  3. Jede "neue Offenbarung" ist daran zu messen, ob sie mit der "Grundtradition", also der Verkündigung der Apostel und anderen neutestamentlichen Zeugen, übereinstimmt. Entscheidend ist insbesondere, ob sie Christi Person und Werk so, wie ihn die ersten Boten verkündigt haben, bezeugt.

Literaturhinweise

L. Gassmann; Anthroposophie-Lexikon; Folgen Verlag; (Mai 20171)

Einzelhinweise und Quellen

Anmerkungen


Quellenangaben



Weitere Artikel in gedruckter Form finden Sie auf der Website von Dr. Lothar Gassmann (Redakteur).