Theosophie
Einleitung
Theosophie (griech.) bedeutet "Gottesweisheit" oder "Weisheit vom Göttlichen". Neben die "christliche Theosophie" (z.B. bei Origenes, Jakob Böhme, Friedrich Christoph Oetinger; s. dort) tritt die außerchristliche (in der Theosophischen Gesellschaft, begründet 1857 von H. P. Blavatsky und H. S. Olcott; vgl. auch R. Steiner und Anthroposophie). Die T. der Theosophischen Gesellschaft wird von ihren Anhängern als die durch okkulte Praktiken zu erkennende Ur- oder Weisheitsreligion betrachtet, die über allen Religionen und Philosophien steht und diese daher miteinander vereinigen kann (vgl. Olcotts Motto "Keine Religion ist höher als die Wahrheit" mit der Konsequenz des Synkretismus). Dementsprechend wurden drei Hauptziele der Theosophischen Gesellschaft formuliert: Sie will 1. einen Kern der allumfassenden Bruderschaft der Menschheit bilden, ohne Unterschied von Rasse, Religion, Geschlecht, Kaste oder Farbe; 2. zum vergleichenden Studium von Religion, Philosophie und Naturwissenschaft anregen; 3. die Erforschung ungeklärter Naturgesetze und der im Menschen verborgenen Kräfte fördern.
Blavatsky und ihre Nachfolger (innen) verbreiten in ihren Büchern ein buntes Gemisch aus fernöstlichen Lehren (v. a. Buddhismus und Brahmanismus), gnostischen, kabbalistischen und sufistischen Systemen, westlichem Okkultismus (Mediumismus, Automatisches Schreiben, Hellsehen, Astrologie u.a.) sowie pseudowissenschaftlichen Spekulationen (Mesmerismus, Atlantis u.a.), verbunden mit einer scharfen Ablehnung oder Umdeutung des biblischen Christentums. Blavatsky betrachtet Gott als kosmisches Urprinzip (Sanskrit: Parabrahma) oder Muttersubstanz (Mulaprakiti), die sich emanativ in periodischen Zyklen als Welt entfaltet. Der Abstieg des Geistes zur Materie und der Wiederaufstieg zum Göttlichen erfolgt in sieben Stufen der Welt- und Menschheitsentwicklung (menschliche "Wurzelrassen" sind z.B. Hyperboräer, Lemurier, Atlantier und Arier) mit Hilfe von Karma und Reinkarnation. "Christus" gilt als ein "Weltenlehrer" (Avatar), ein Abgesandter der Planetengeister, der in "Jesus" und die Heilsgestalten anderer Religionen hinabgestiegen ist, um die Menschheit evolutionär zur Erleuchtung zu führen und ihr das "goldene Zeitalter" zu bringen (New Age)..
Solche Ansichten lassen sich mit dem christlichen Glauben nicht vereinbaren.
"Pantheismus steht gegen Monotheismus, Monismus gegen den biblisch verstandenen Dualismus, Vergöttlichung des Menschen gegen die Ebenbildlichkeit des Sünders, Reinkarnation gegen Auferstehung, Karma gegen Gnade", ...
resümiert kritisch der Kirchengeschichtler Stephan Holthaus.
Steiners Weg zur Theosophie
Das Jahr 1888 bringt für Steiner einen weiteren großen Schritt auf die "höheren Welten" - oder richtiger: auf den Abgrund dämonischer Mächte - zu: Er schließt auf literarische und persönliche Weise Bekanntschaft mit der Theosophie. Die literarische Bekanntschaft erfolgt zunächst durch die Lektüre von Alfred Percy Sinnetts Werk "Die esoterische Lehre oder Geheimbuddhismus", das 1883 auf Englisch und 1884 auf Deutsch erschienen war. Sinnett war ein enger Vertrauter H. P. Blavatskys, auf die ich gleich näher eingehen werde. Okkulte Phänomene, z.B. unerklärbare Klopfgeräusche, Materialisationen, Gedankenlesen und ähnliches, wie er sie bei Blavatsky beobachtet hat, versucht er zu beweisen und sie einem esoterisch verstandenen Buddhismus einzuordnen. Er bewegt sich auf dem Feld des medialen >Spiritismus. Steiner fühlt sich durch Sinnetts Werk abgestoßen - weniger wegen des Inhalts, als wegen der Art der Darstellung:
"Dieses Buch, das erste, das ich aus der theosophischen Bewegung kennen lernte, machte auf mich gar keinen Eindruck. Und ich war froh darüber, dieses Buch nicht gelesen zu haben, bevor ich Anschauungen aus dem eigenen Seelenleben heraus hatte. Denn sein Inhalt war für mich abstoßend; und die Antipathie gegen diese Art, das Übersinnliche darzustellen, hätte mich wohl verhindert, auf dem Wege, der mir vorgezeichnet war, zunächst weiter fortzuschreiten" (636, 103).
Ähnlich ergeht es ihm mit den Werken des deutschen Okkultisten, Freimaurers und Theosophen Franz Hartmann, zunächst Gefolgsmann Blavatskys, später Gründer einer eigenen theosophischen Vereinigung, der 1883 zum >Buddhismus übergetreten war und fernöstliche und spiritistische Lehren mit einer strengen Gedankenlogik zu durchdringen suchte. Steiner weiß um den späteren Konkurrenten (Hartmann hatte 1896 eine eigene Theosophische Gesellschaft in Deutschland gegründet, die noch bestand, als Steiner Generalsekretär der Deutschen Sektion der Adyar Theosophischen Gesellschaft war), wenn er zurückblickend in seinem "Lebensgang" bemerkt:
"... die Art, sich zur geistigen Welt zu verhalten, die sich in den Schriften Franz Hartmanns darlebte, war meiner Geistesrichtung völlig entgegengesetzt. Ich konnte ihr nicht zugestehen, daß sie von wirklicher innerer Wahrheit getragen ist" (636, 118f.).
Einen positiveren Eindruck empfängt Steiner durch persönliche Begegnungen mit Wiener Theosophen, obwohl er auch diese im Vergleich mit der Berliner Loge rückblickend abwertend beurteilt:
"Ich kannte Theosophen schon von Wien her, und lernte später noch andere kennen. Diese Bekanntschaften veranlaßten mich, im 'Magazin` die abfällige Notiz über die Theosophen beim Erscheinen einer Publikation von Franz Hartmann zu schreiben" (636, 293).
Trotz aller Kritik bleibt die Begegnung mit den Wiener Theosophen wegweisend für Steiner. Es handelt sich um die Loge, die sich im Haus des Rechtsanwaltes Edmund Lang und seiner Frau Marie in der Belevederegasse trifft. Dort lernt Steiner die Gedankenwelt Helena Petrovna Blavatskys und ihrer Theosophischen Gesellschaft kennen, vor allem durch den Generalsekretär der österreichischen Sektion dieser Gesellschaft, Friedrich Eckstein, der dort verkehrt und ihn in die Theosophie einführt. Eckstein berichtet in seinen Lebenserinnerungen darüber:
"Um diese Zeit ... tauchte in unserem Kreise ein völlig bartloser blasser Jüngling auf, ganz schlank, mit langem Haar von dunkler Färbung ... Sein Name war ... Rudolf Steiner ... Steiner erklärte mir, wie sehr ihm daran liege, über diese Dinge Näheres zu erfahren und bat mich, ihn in die 'Geheimlehre` (sc. Blavatskys) einzuweihen. Damit begann mein regelmäßiger Verkehr mit ihm, der viele Jahre währte und schließlich, nach langen Wandlungen und Zwischenfällen, allmählich zur Ausgestaltung seines eigenen 'anthroposophischen` Systems hinführte" (Eckstein 1936, 130f.).
Daß Steiner tatsächlich - trotz manchen Unterschieden - stark von der Theosophie Blavatskys beeinflußt wurde, wird an vielen Parallelen zwischen deren "Geheimlehre" und Steiners 1910 erschienener "Geheimwissenschaft" deutlich. Am 20.8.1902 beispielsweise meldet er einer Mitarbeiterin, daß Blavatskys "Geheimlehre" auf seinem Schreibtisch liegt, "auf dem sie mir gerade jetzt große Dienste tut, da ich sie bei meinen einschlägigen Studien fortwährend nachschlagen muß" (Wehr 1993, 169).
Worum handelt es sich überhaupt bei der Theosophischen Gesellschaft und der von Blavatsky entwickelten Theosophie?
Helena Petrovna Blavatsky und die Adyar Theosophische Gesellschaft
Die Theosophische Gesellschaft (ursprünglich: Miracle Club) wurde am 17.11.1875 als Vereinigung zur Erforschung okkulter Phänomene in New York gegründet. Der Okkultist, Freimaurer und Journalist Oberst a.D. Henry Steel Olcott wurde ihr Präsident, das spiritistische Medium Helena Petrovna Blavatsky ihre Korrespondenzsekretärin und geistige Leiterin durch eine Reihe von Büchern, die ihr von unsichtbaren "Meistern" ("Mahatmas") angeblich diktiert wurden. 1879 übersiedelten Olcott und Blavatsky nach Indien und traten offiziell zum >Buddhismus über. Zunächst lebten sie in Benares, bald darauf in Bombay, und schließlich verlegten sie im Jahre 1882 ihr Hauptquartier nach Adyar, einen Vorort von Madras, wo bis heute die "Adyar Theosophische Gesellschaft" ihren Sitz hat.
1884 kam es zur "Coulomb-Affäre". Emma Coulomb, zeitweilige Mitarbeiterin Blavatskys, warf dieser im Blick auf "geheimnisvoll erscheinende Briefe" und andere mysteriöse Praktiken Betrug vor: Die Briefe der "Mahatmas" seien durch ein Geheimfach an der Rückseite in einem Schrein deponiert worden. Die Erscheinungen der "Meister" seien durch eine Menschenpuppe namens Christofolo vorgetäuscht worden. Der 1885 veröffentlichte Hodgson-Report der Londoner "Society for Psychical Research" bestätigte diesen Verdacht. Er bezeichnete Blavatsky als "eine der perfektesten, genialsten und interessantesten Betrügerinnen der Weltgeschichte" (zit. nach Holthaus 1990, 32).
Aufschlußreich ist, daß auch in Äußerungen des Theosophen Friedrich Eckstein gegenüber Steiner die Möglichkeit des "Humbugs" im Blick auf "Meister-Inspirationen" erwähnt wird. Gerhard Wehr berichtet darüber, wie sich die Wege der beiden Freunde in den 90er Jahren trennen (u.a. wegen der Meinung Ecksteins, esoterische Lehren dürften nicht der Öffentlichkeit preisgegeben werden) und Eckstein sich im 20. Jahrhundert ganz von der theosophischen Bewegung zurückzieht. Als sich ungefähr im Jahr 1912 die beiden Jugendfreunde wieder einmal treffen, fragt Steiner seinen ehemaligen Lehrer: "Sag mir, glaubst du an die Meister?" Und Eckstein antwortet ihm: "Du bist doch einst mein Schüler gewesen und hast doch selbst einige 'Meisterinspirationen` als Humbug erfahren", worauf Steiner erwidert: "Schade, dann kann ich dir auch nichts darüber mitteilen". Nach einem Bericht des Eckstein-Freundes Edmund Schwab wird die Entfremdung der beiden Männer auch schon in einer früheren Begebenheit deutlich:
"Als er (Eckstein) etwa 1905 Steiner nach Jahren wieder getroffen und einen öffentlichen Vortrag von ihm gehört habe, sei er entsetzt gewesen; Steiner sei ihm zeitweise nicht mehr normal vorgekommen; er habe phantastischen Unsinn vorgetragen!" (zit. nach Wehr 1993, 80).
Lehren und Ziele der Theosophie Blavatskys
Doch zurück zur Theosophie Blavatskys. "Theosophie" bedeutet "Gottesweisheit" oder "Weisheit vom Gott" bzw. vom "Göttlichen", was auch immer darunter verstanden wird. Neben die genuin "christliche Theosophie" (z.B. bei Origenes, Jakob Böhme, Friedrich Christoph Oetinger), an die auch manche kritischen Fragen zu stellen sind (>Pietismus) und an die insbesondere Steiner zum Teil anknüpft, tritt die von heidnischer Religiosität durchdrungene und oft spiritistisch gefärbte außerchristliche, so namentlich in Blavatskys Theosophischer Gesellschaft. Diese außerchristliche Theosophie wird von ihren Anhängern als die durch okkulte Praktiken zu erkennende Ur- oder Weisheitsreligion betrachtet, die über allen Religionen und Philosophien steht und diese daher miteinander vereinigen kann. So lautet das von Olcott geprägte Motto der Adyar Theosophischen Gesellschaft: "Keine Religion ist höher als die Wahrheit." Die Folge eines solchen ins Allgemeine gehaltenen Wahrheitsbegriffes ist die Religionsvermischung (>Synkretismus).
Dementsprechend werden drei Hauptziele der Theosophischen Gesellschaft formuliert: Sie will 1. einen Kern der allumfassenden Bruderschaft der Menschheit bilden, ohne Unterschied von Rasse, Religion, Geschlecht, Kaste oder Farbe; 2. zum vergleichenden Studium von Religion, Philosophie und Naturwissenschaft anregen; und 3. die Erforschung ungeklärter Naturgesetze und der im Menschen schlummernden Kräfte fördern.
Blavatsky und ihre Nachfolger(innen) verbreiten in ihren Büchern ein buntes Gemisch aus fernöstlichen Lehren (vor allem >Buddhismus und >Brahmanismus), gnostischen, kabbalistischen und sufistischen Systemen, westlichem Okkultismus (>Astrologie, >Hellsehen, >Automatisches Schreiben, >Mediumismus u.a.) sowie scheinwissenschaftlichen Spekulationen (>Mesmerismus, >Atlantis-Mythos u.a.). Damit verbunden ist eine scharfe Ablehnung oder Umdeutung des biblischen Christentums. Stephan Holthaus faßt einige Beispiele aus Blavatskys Werken zusammen:
"Seth, der Sohn Adams, soll der Gott Jehova gewesen sein; Sem, Ham und Japhet seien Maßeinheiten für Pyramiden gewesen, Jesus Christus sei schon 105 v. Chr. geboren worden und sei Mitglied der Essenersekte gewesen. Wie später Steiner machte schon Blavatsky einen Unterschied zwischen 'Christos`, dem göttlichen Geist, und 'Jesus`, dem Menschen. Erst bei seiner Taufe seien der Christos und die himmlische Sophia in seinen Körper hinabgestiegen. Als Hauptziel ihres Isis-Werkes gibt Blavatsky an, sie wolle zeigen, daß der Christengott Jesus eine Erfindung des zweiten Jahrhunderts sei und daß Jesus in Wirklichkeit reinen Buddhismus gelehrt habe" (Holthaus 1990, 71).
Demgemäß ist auch die Gottes-, Welt- und Erlösungsvorstellung Blavatskys fernöstlich geprägt: "Gott" betrachtet sie als kosmisches Urprinzip (Sanskrit: Parabrahma) oder Muttersubstanz (Mulaprakiti), die sich emanativ in periodischen Zyklen als Welt entfaltet. Der Abstieg des Geistes zur Materie und der Wiederaufstieg zum Göttlichen erfolgen in sieben Stufen der Welt- und Menschheitsentwicklung mit Hilfe von Karma und >Reinkarnation. Die Menschheit entwickelt sich immer höher über verschiedene Wurzelrassen: Selbstgeborene, Hyperboräer, Lemurier, Atlantier, Arier usw. "Jesus" ist für sie ein "Weltenlehrer" (>Avatar) neben den Heilsgestalten anderer Religionen, in die der Planetengeist "Christus" hinabgestiegen ist, um die Menschheit evolutionär zur Erleuchtung zu führen und ihr das "goldene Zeitalter" zu bringen. In seinen Büchern über "Theosophie" und "Madame Blavatsky" hat Stephan Holthaus die Unvereinbarkeit zwischen theosophischer Lehre und biblisch-christlichem Glauben ausführlich aufgezeigt. Holthaus resümiert: "Gottes-, Welt- und Menschensicht sind nicht miteinander zu verbinden. Pantheismus steht gegen Monotheismus, Monismus gegen den biblisch verstandenen Dualismus, Vergöttlichung des Menschen gegen die Ebenbildlichkeit des Sünders, Reinkarnation gegen Auferstehung, Karma gegen Gnade" (Holthaus 1990, 120) - und ich ergänze: Synkretismus gegen die Einzigartigkeit Jesu Christi, des Sohnes Gottes (Joh 14,6; Apg 4,12; 1. Kor 3,11).
Rudolf Steiner und die Theosophische Gesellschaft
Am 17.1.1902 wird Rudolf Steiner Mitglied der seit 1894 bestehenden Theosophischen Gesellschaft in Berlin-Charlottenburg, am 20.10.1902 Generalsekretär der Deutschen Sektion. Seine Mitarbeit macht er von drei Bedingungen abhängig: Erstens, daß er nur die Ergebnisse seines "eigenen forschenden Schauens vorbringen werde", auch wenn es - vor allem unter den englischen Theosophen - einiges gab, "an das man würdig anknüpfen durfte" (636, 294.308). Zweitens, daß er die Freiheit erhält, "an den abendländischen Okkultismus und ausschließlich an diesen ... an Plato, an Goethe und so weiter" anzuknüpfen (zit. nach Wehr 1993, 164). Und drittens, daß ihm ein Mensch zur Seite gestellt wird, der seine Ansichten teilt und ihn unterstützt. Dieser Mensch ist die wohlhabende baltendeutsche Schauspielerin Marie von Sivers, seine spätere zweite Frau, die er im Spätherbst 1900 in der Bibliothek des Grafen Brockdorff kennengelernt hat: "Wenn sie mitmacht, kann man es wagen" (zit. nach Wehr 1993, 164).
Im Juli 1902 fahren Rudolf Steiner und Marie von Sivers zum Kongreß der Internationalen Theosophischen Gesellschaft Adyar nach London, um deren Präsidenten Henry Steel Olcott und seine spätere Nachfolgerin Annie Besant kennenzulernen. Sie benötigen von Olcott eine Stiftungsurkunde, damit die Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft unter internationaler Anerkennung ihre Arbeit aufnehmen kann. Am 20. Oktober überreicht Annie Besant die von Olcott unterschriebene Stiftungs- und Ernennungsurkunde zum Generalsekretär an Rudolf Steiner in Berlin. Marie von Sivers wird seine Sekretärin. Rund fünfzig Delegierte aus zehn theosophischen Logen Deutschlands und der Schweiz sind anwesend.
Im Zusammenhang mit dieser Gründungsversammlung der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft findet sich ein bemerkenswertes Faktum, auf das z.B. Gerhard Wehr aufmerksam macht. Es ist die Tatsache, "daß der soeben zum Generalsekretär berufene Rudolf Steiner die noch im Gang befindliche Gründungsveranstaltung für kurze Zeit verläßt, um im Klub der 'Kommenden` den ebenfalls für diesen Tag vereinbarten dritten Vortrag der Reihe Von Zarathustra zu Nietzsche mit dem Untertitel eine Anthroposophie zu halten, während Marie von Sivers die stattliche Anzahl der Gäste in ihrer Wohnung bewirtet ... durch diesen 'anthroposophischen` Vortrag ist signalisiert, daß Rudolf Steiner gesonnen ist, aus dem ihm zugänglichen eigenen Erkenntnisgut zu schöpfen" (Wehr 1993, 170).
Dennoch lassen sich Rudolf Steiner und Marie von Sivers von Annie Besant in die von Helena Petrovna Blavatsky gegründete >Esoterische Schule der Adyar Theosophischen Gesellschaft einführen (s. dort).
Und Steiner geht den Weg in die Finsternis hinein unbeirrt weiter. Bereits einige Tage vor der Gründungsversammlung der Deutschen Sektion bekennt er sich öffentlich vor einem nichttheosophischen Publikum zu seiner neuen Weltanschauung. Ausgerechnet auf Einladung des mit Ernst Haeckel sympathisierenden Giordano-Bruno-Bundes hält er am 8.10.1902 in Berlin einen Vortrag über das Thema "Monismus und Theosophie". In diesem Vortrag, der - wie er später sagt - "der Ausgangspunkt meiner anthroposophischen Tätigkeit geworden ist" (636, 289), entwickelt er seine Vorstellung eines auf spiritueller Grundlage beruhenden Monismus. Über die Reaktionen auf seine Ausführungen berichtet Johannes Hemleben:
"Dieser Vortrag wirkte gleich einer Explosion. Das war für die guten Leute, die aus Haeckels 'Welträtseln` sich einen gutbürgerlichen Monismus als Weltanschauung zurechtgezimmert hatten, in dem die Einheit auf Kosten des geistigen Reichtums der Welt gewonnen war, zu viel. Ein Monismus, der die materielle und geistige Seite der Welt gleichermaßen anerkannte, ging über den Horizont der meisten Hörer. Diesem 'Sprengstoff` der Idee waren sie nicht gewachsen. Da stand nun Rudolf Steiner im Kreise so vieler ihm menschlich verbundener Freunde wieder völlig allein" (Hemleben 1983, 76).
Noch im gleichen Jahr 1902 läßt er seine Vorträge zum Thema "Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums" zusammengefaßt in Buchform erscheinen (s. >Bibelverständnis; >Christosophie).
Im Jahr 1904 erscheint Steiners Buch "Theosophie". Im Buch "Theosophie", dessen Titel auch nach Steiners späterem Ausschluß aus der Theosophischen Gesellschaft unverändert beibehalten wird, entfaltet er in deutlicher Anknüpfung an Blavatsky und mit in den ersten Auflagen noch weithin benutzter Sanskrit-Terminologie seine Vorstellungen von den verschiedenen Leibern des Menschen, den nachtodlichen Erlebnissen im Geisterland, Reinkarnation und Karma und ähnlichem.
Im Juni 1906 besucht Steiner den Dritten Kongreß Europäischer Föderationen der Theosophischen Gesellschaft in Paris. Dabei lernt er den französischen Okkultisten Edouard Schuré, den Autor des Dramas "Die Kinder des Luzifer", kennen, zu dem sich bis zum ersten Weltkrieg ein freundschaftliches Verhältnis ergibt. Während des ersten Weltkriegs wird dieses Verhältnis zeitweilig durch die Feindschaft zwischen Deutschen und Franzosen getrübt, die auch vor Steiner und Schuré nicht Halt macht. Dennoch ist Schuré als Biograph und Übersetzer von Werken Steiners bekannt geworden. Steiner seinerseits brachte in Deutschland Schurés Neufassung der Eleusinischen Mysterien sowie seine "Kinder des Luzifer" zur Aufführung. Über seine erste Begegnung mit Steiner im Jahr 1906 berichtet Schuré: "Zum ersten Mal war ich gewiß, einen Eingeweihten vor mir zu haben" (zit. nach Wehr 1993, 211). Über Jahre hinweg betrachtete er den zwanzig Jahre jüngeren Steiner als seinen spirituellen Meister.
Vom 18.-21. Mai 1907 findet der Vierte Jahreskongreß der Föderation Europäischer Sektionen der Theosophischen Gesellschaft in München statt. Die Organisation hat die Deutsche Sektion unter Leitung Rudolf Steiners übernommen. In München ist manches anders als bei früheren Theosophischen Kongressen. Wehr zeigt einige Unterschiede auf:
"Vor rund 600 Teilnehmern aus zahlreichen Ländern eröffnet Rudolf Steiner in der Tonhalle, Türkenstraße 5, den Kongreß mit einem Vortrag über Die Einweihung des Rosenkreuzers. Der Saal ist mit roten Stoffen ausgekleidet. Vor der Bühne sind die Büsten von Schelling, Hegel und Fichte aufgestellt. Annie Besant, die 'stattliche alte Frau im weißen Seidengewande und silbernen Haaren` (L. Kleeberg) gibt wohl ihrer Genugtuung Ausdruck, diesmal in einem Lande großer Denker und Künstler, großer Dichter und Mystiker zusammen gekommen zu sein. Beobachtern aber ist aufgefallen, daß die nunmehrige Präsidentin - Olcott war kurz zuvor gestorben - an H. P. Blavatsky anknüpfte, während Rudolf Steiner mit einem Hegel-Wort begann und mit einem Goethe-Wort schloß. Und nicht nur das: Um den rosenkreuzerischen Akzent noch mehr zu betonen, läßt er den Kongreß zu einem 14teiligen Zyklus über die Theosophie des Rosenkreuzers überleiten" (Wehr 1993, 195).
Auch hier wird Steiners Absicht deutlich, in erster Linie an die abendländische Esoterik anzuknüpfen. Dementsprechend gelangt das "Heilige Drama von Eleusis" von Edouard Schuré zur Aufführung, Marie von Sivers rezitiert Stellen aus Goethes "Faust II", und zwischen auf Karton gemalten Säulen, die an den freimaurerischen Tempelbau erinnern, finden sich Darstellungen der sieben Siegel aus der Johannes-Offenbarung, mit astrologischen Tierkreiszeichen vermischt - in Analogie zu ihrer Interpretation in Eliphas Lévis "Lehre und Ritual der hohen Magie". Diese Betonung der abendländischen Traditionen aus Philosophie, Mystik und einem esoterisch gedeuteten Christentum führen zu einer wachsenden Polarisierung zwischen Steiner und Besant mit ihren jeweiligen Anhängern, die schließlich zur Trennung führt. So läßt Steiner seine unvollendet gebliebene Autobiographie mit einem Rückblick auf den Münchner Kongreß ausklingen, in dem er feststellt:
"Ein großer Teil der alten Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft aus England, Frankreich, namentlich aus Holland waren innerlich unzufrieden mit den Erneuerungen, die ihnen mit dem Münchner Kongreß gebracht worden sind. - Was gut gewesen wäre, zu verstehen, was aber damals von den wenigsten ins Auge gefaßt wurde, war, daß mit der anthroposophischen Strömung etwas von einer ganz andern inneren Haltung gegeben war, als sie die bisherige Theosophische Gesellschaft hatte. In dieser inneren Haltung lag der wahre Grund, warum die anthroposophische Gesellschaft nicht als ein Teil der theosophischen weiterbestehen konnte. Die meisten legten aber den Hauptwert auf die Absurditäten, die im Laufe der Zeit in der Theosophischen Gesellschaft sich herausgebildet haben und die zu endlosen Zänkereien geführt haben" (636, 349).
Mit den "Absurditäten" ist vor allem die Präsentation des Hinduknaben >Krishnamurti als des "wiedergekommenen Christus" durch Besant in den Folgejahren gemeint (s. dort). Steiner teilt dem "Logos" bzw. "Christus", wie er ihn versteht, eine zentrale Bedeutung im Weltgeschehen zu - im Gegensatz zu den Theosophen um Annie Besant, die mit solchem Deutungen nicht viel anfangen können. Vor allem hier wird der Graben zwischen abend- und morgenländischer Theosophie sichtbar (>Christosophie).
Ende Mai 1909 findet der Fünfte Kongreß der Föderation der Europäischen Sektionen der Theosophischen Gesellschaft in Budapest statt. Diesmal sind die von Besant geprägten Theosophen die Veranstalter. Rudolf Steiner vermißt das künstlerische Element, das zwei Jahre zuvor in München so wesentlich war. Aber das ist nur ein Teil seiner inneren Distanzierung.
Obwohl ihm in der Eröffnungssitzung am 30. Mai Annie Besant die goldene Suba-Row-Medaille für seine Verdienste überreicht und damit nach außen hin noch einmal Harmonie vorgespiegelt wird, sind doch die inneren Gräben unüberbrückbar. Geradezu provokativ für die fernöstlich orientierten Theosophen - Besant sagte einmal: "Viele von uns, und ich selbst, sind keine Christen" (Miers 1986, 68) - hält Steiner seinen Kongreßvortrag am 31. Mai über das Thema "Von Buddha zu Christus". Darin stellt er den "Christus" als das Mittelpunktswesen des Weltalls dar, auf das sich die anderen Religionen - und namentlich der von Blavatsky und Olcott so sehr geschätzte Buddhismus - evolutionär zubewegen. Offensichtlich stößt dieser Vortrag bei den Besantschen Theosophen auf scharfen Protest. Denn Marie Steiner-von Sivers meint rückblickend:
"Annie Besant wurde zum Werkzeug einer gegenchristlichen Strömung. Im Sommer 1909 in Budapest mußte Rudolf Steiner ihr sagen, daß ihre Wege sich innerlich geschieden hätten. Ein Kampf für und gegen Christus hat auch hier stattgefunden. 'Eine Theosophie, welche nicht die Mittel hat, das Christentum zu begreifen, ist für die gegenwärtige Kultur völlig wertlos.` 1910 hat Rudolf Steiner dies Wort gesprochen" (zit. nach Wachsmuth 1951, 140).
An dieser Stelle zeigt sich übrigens, warum die Anthroposophie für den im "christlichen Abendland" lebenden Menschen weit verführerischer und gefährlicher ist als die buddhistische oder brahmanistische Theosophie. Die Anthroposophie greift christlich-abendländische Begriffe auf und füllt diese mit neuen, unbiblischen Inhalten. Diese Vorgehensweise ist viel schwerer zu durchschauen als eine klare Ablehnung des Christentums, wie sie sich bei Blavatsky findet. Steiner hat eine eigene, unbiblische >Christosophie entwickelt. Entscheidend ist für ihn, daß der "Christus-Sonnengeist", nachdem er sich früher durchaus mehrmals in Eingeweihten verkörpert hat, beim "Mysterium von Golgatha" zum hellseherisch wahrnehmbaren und durch seine kosmischen "Impulse" die Evolution fördernden "Geist der Erde" wird. Das schließt weitere Verkörperungen aus. Nun wird aber gerade eine solche weitere "Verkörperung des Christus" von Annie Besant behauptet durch die Propagierung des Hinduknaben >Krishnamurti als wiedergekommener „Christus“. Das Auftreten Krishnamurtis bildete für Steiner den letzten Anstoß zur inneren und äußeren Trennung von der Adyar Theosophischen Gesellschaft in den Jahren nach 1909 und zur Gründung der eigenen >Anthroposophischen Gesellschaft um die Jahreswende 1912/13. Der Graben zwischen Steiner und Besant war immer breiter geworden, eine Einigung war nicht möglich. Bereits Anfang September 1912 finden interne Verhandlungen zwischen den zu Rudolf Steiner loyalen Mitgliedern statt, die zum Entschluß führen, sich von Besant zu trennen. Die Trennung selbst wird dann folgendermaßen vollzogen:
"Im Dezember 1912, nachdem also die Anthroposophische Gesellschaft bereits beschlossen war, stellten diejenigen, die damals formal noch zur Theosophischen Gesellschaft gehörten, auf Grund eines Beschlusses des Vorstandes der deutschen Sektion vom 8. Dezember 1912, an die Mitglieder, die weiterhin mit ihnen zusammenarbeiten wollten, die Aufforderung, aus dem sogenannten 'Stern des Ostens` der Mrs. Besant auszutreten, andernfalls würde der Vorstand der deutschen Sektion, da er die Zugehörigkeit zu beiden Institutionen als unvereinbar betrachtete, 'sich gezwungen sehen, Mitglieder, welche dieser Bitte nicht entsprechen, aus der Sektion auszuschließen`. Die Wirkung war völlig eindeutig, da mit ganz wenigen Ausnahmen fast alle Mitglieder, die mit Rudolf Steiner arbeiteten, jenem 'Stern des Ostens` überhaupt nicht beigetreten waren und die wenigen unklaren und komproßgeneigten Mitläufer ... den Austritt vollzogen. Gleichzeitig war auf Grund des genannten Beschlusses am 11. Dezember 1912 ein Telegramm nach Adyar, dem Wirkungszentrum Mrs. Besants, gesandt worden, das ihren Rücktritt forderte. Diese zog ihrerseits mit Brief vom 14. Januar 1913 die sogenannte Stiftungsurkunde der deutschen Sektion zurück, was die ja bereits bestehende Trennung formal zum Abschluß brachte. Sie hatte aber vorher noch versucht, durch sinnlose Verleumdungen Rudolf Steiners die Mitglieder zu beeinflussen, so z.B. durch die groteske Behauptung, daß Dr. Steiner ein Jesuitenzögling sei, und ähnliches mehr" (Wachsmuth 1951, 206).
Ungefähr 90 Prozent der deutschen Theosophen - man schätzt ihre Zahl im Jahr 1912 auf ca. 2.500 Personen - schließen sich Steiner an. Die restlichen versucht der Besant-Anhänger Wilhelm Hübbe-Schleiden in einer neugegründeten Adyar Theosophischen Gesellschaft in Deutschland zu sammeln, hat aber im Vergleich zu Steiner wenig Erfolg. In den deutschsprachigen Ländern lebt die Theosophie von nun an in ihrer von Steiner verwestlichten Gestalt weiter. Auch in anderen Ländern schließen sich ehemalige Theosophen der von Steiner inaugurierten Bewegung an (Anthroposophische Gesellschaft).
S. auch: Theosophische Gesellschaft; Anthroposophische Gesellschaft; Anthroposophie; Okkultismus; u.a.
Literaturhinweise
H. P. Blavatsky, Die Geheimlehre (viele Auflagen).
S. Holthaus, Madame Blavatsky und die Theosophische Gesellschaft. Die Sphinx des Okkultismus, 1990;
S. Holthaus, Theosophie - Speerspitze des Okkultismus,1989.
L. Gassmann; Anthroposophie-Lexikon; Folgen Verlag; (Mai 20171)
Einzelhinweise und Quellen
Originärer Autor: Lothar Gassmann
Ursprungsquelle dieses Artikels: https://www.bibel-glaube.de/handbuch_orientierung/Theosophie.html (Abgerufen am 05. 03. 2022, 21:08)