Spirituelle Interpretation (anthroposophische): Unterschied zwischen den Versionen

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Wie im Unterschied zu den dargestellten und von der Anthroposophie allesamt als "materialistisch" abgelehnten "liberalen" und "orthodoxen" Auslegungsmethoden der anthroposophische Zugang zu den "höheren Welten" und zur Heiligen Schrift selber aussieht, untersuchen wir im folgenden Teil.
Wie im Unterschied zu den dargestellten und von der Anthroposophie allesamt als "materialistisch" abgelehnten "liberalen" und "orthodoxen" Auslegungsmethoden der anthroposophische Zugang zu den "höheren Welten" und zur Heiligen Schrift selber aussieht, untersuchen wir im folgenden Teil.
=='''Der Anspruch auf "Wiedergewinnung der spirituellen Dimension" durch den anthroposophischen Zugang zur Bibel'''==
==Der Anspruch auf "Wiedergewinnung der spirituellen Dimension" durch den anthroposophischen Zugang zur Bibel==
Der anthroposophische Zugang zur Bibel erfolgt über einen Dreischritt: Am Anfang stehen die "[[Erkenntnisse höherer Welten]]". Durch sie gelangt man zum Lesen der "[[Akasha-Chronik]]". Die Akasha-Chronik wiederum bildet die Grundlage für die "spirituelle Interpretation".
Der anthroposophische Zugang zur Bibel erfolgt über einen Dreischritt: Am Anfang stehen die "[[Erkenntnisse höherer Welten]]". Durch sie gelangt man zum Lesen der "[[Akasha-Chronik]]". Die Akasha-Chronik wiederum bildet die Grundlage für die "spirituelle Interpretation".


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Aktuelle Version vom 23. April 2022, 12:44 Uhr

Der beklagte "Verlust der spirituellen Dimension" in den klassischen Systemen der Bibelauslegung

Die anthroposophische Bibelauslegung begründet ihre Notwendigkeit vom Ungenügen der übrigen hermeneutischen Systeme her. Ihnen wirft sie, wie wir in Teil A zeigen werden, allesamt den "Verlust der spirituellen Dimension" vor. Der "Geist der Schrift" sei unter dem Einfluß des Materialismus verlorengegangen. Diesen Vorwurf richtet sie sowohl an die Vertreter des "Rationalismus" wie des "Supranaturalismus", der "liberalen" wie der "positiven" Theologie, der "existentialen" wie der "fundamentalistischen" Interpretation sowie der "vermittelnden" Positionen.

Angesichts des riesigen Problemfeldes, das hier anklingt, und der notwendigen Differenzierung der hier nur schematisch aufgelisteten Begriffe stellt sich sofort die Frage nach der Konkretion: Welche Vertreter der verschiedenen theologischen Schulen sind denn gemeint? In welchen Punkten wird der "Verlust der spirituellen Dimension" sichtbar? Wir müssen uns im folgenden auf einige wesentliche Beispiele beschränken. Die grundsätzliche Fragestellung, was die Anthroposophie eigentlich unter der "spirituellen Dimension" oder dem "Geist der Schrift" versteht und ob ihr Versuch der "Wiedergewinnung" dieser Dimension der Bibel angemessen ist, werden wir ausführlich in Teil B entfalten.

Liberale Theologie

Den Begriff "liberale Theologie" verstehen wir hier - im Anschluß an die Unterscheidung Hans-Joachim Birkners („Liberale Theologie“; in: Schmidt/Schweiger 1976, 34f.39) und die Definition der frühen Dialektischen Theologie - im "weiten Sinn": nicht nur zur Bezeichnung des Kreises der "theologischen Freunde, Schüler und Enkelschüler Albrecht Ritschls" und der Religionsgeschichtlichen Schule, sondern zur Charakterisierung einer theologischen Richtung insgesamt, die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebte und als "Ära Schleiermacher-Harnack" umschrieben werden kann.“ Die hervorstechenden Kennzeichen, die ihre Vertreter einen, sind: ein freies, undogmatisches Verhältnis zum Christentum und zur Heiligen Schrift, die Betonung der natürlichen Vernunft des Menschen, die Offenheit für philosophische Systeme und die Ergebnisse und Methoden der historischen und philologischen Wissenschaft. Damit stehen diese Vertreter der "liberalen", "modernen", "wissenschaftlichen" oder "spekulativen" Theologie im Gegensatz zu den "positiven", "kirchlichen", "gläubigen" oder "orthodoxen" Theologen, wie die gängigen Bezeichnungen lauteten. Die Situation hat sich allerdings durch die Dialektische Theologie im 20. Jahrhundert ganz erheblich geändert und die Fronten haben sich dadurch wesentlich verschoben.

Die Kritik der anthroposophischen Autoren bezieht sich insbesondere auf die "exoterische" Bibelübersetzung, die Quellenscheidung, die Leben-Jesu-Forschung und die "Christus-Forschung". In dieser Reihenfolge betrachten wir nun diese Kritik.

Exoterische Bibelübersetzung

Nach anthroposophischer Ansicht wurde durch "exoterische" Übersetzungen nicht nur die geistige Fülle der Bibel preisgegeben, sondern auch die "Bibelkritik" der liberalen Theologie vorbereitet (vgl. 131,207f). Diese "Exoterisierung" begann bereits mit der "griechischen" (s.u.) und lateinischen Übersetzung des Hieronymus und wurde durch Luthers deutsche Übersetzung fortgeführt:

"Luther hatte kein Verständnis mehr für das esoterische Prinzip, das Mysterienprinzip, das man bis dahin der Bibel gegenüber angewandt hatte ... er mußte die Bibel nicht nur exoterisieren, er mußte sie sogar popularisieren", meint Emil Bock (1953, 50f).

Dadurch aber habe er sie "ins Bloß-Seelische, Menschliche verkleinert ... das Geistige darin bleibt ihm fremd". Seiner Übersetzung liege die lateinische Bibel des Hieronymus zugrunde, "die schon die farbige Geistigkeit... der griechischen Bibel nicht mehr hatte. Und so ist die Lutherbibel eine seelische Formulierung geistiger Texte". Nach Bock war es "unvermeidlich, daß sich schon bald eine intellektuelle Theologie über die biblischen Schriften hermachte ... Die Bibelkritik entstand". - Steiner selber drückt diese Auffassung so aus:

„... mit der Popularisierung der Evangelien entstand auch zugleich das große Mißverständnis: das Trivialnehmen und dann all das, was das neunzehnte Jahrhundert aus den Evangelien gemacht hat, was ja, rein objektiv sei es gesagt, schlimm genug ist, daß es geschehen ist" (131,207).

Auch die Bibelübersetzungen, die nach und im Gefolge der Lutherübersetzung entstanden sind, z.B. auch die von Steiner selber immer wieder benutzte Weizsäckersche Übersetzung, werden allesamt als "exoterisch" bewertet. So gelangt Steiner zu der Aussage: "... die Welt hat heute die Bibel nicht!" (114,231).

Diese Argumentation ist allerdings aus mehreren Gründen unhaltbar: Erstens handelt es sich bei der Annahme eines hebräischen "Urmatthäus", den Hieronymus unter Weglassung esoterischer Inhalte ins Griechische übersetzt habe (so Steiner), um eine reine Spekulation, die an der historischen Wirklichkeit völlig vorbeigeht. Die neutestamentlichen Schriften wurden alle in der griechischen Volkssprache der Koine geschrieben und in der einfachen griechischsprechenden Bevölkerung des Römischen Reiches verbreitet. Es waren die Gebildeten, die zunächst die ihnen jüdisch - und d.h. "barbarisch" - erscheinenden Schriften des Urchristentums ablehnten. - Zweitens benutzte Luther für seine Übersetzung sehr wohl den griechischen Grundtext, der ihm neben der lateinischen Vulgata in Form des 1519 von Erasmus herausgegebenen griechischen Neuen Testamentes vorlag. Nach einem "esoterischen Prinzip" in den Texten suchte er dabei freilich nicht. - Drittens bezogen sich auch die Vertreter der wissenschaftlichen Theologie im 19. Jahrhundert in ihren Forschungen selbstverständlich auf den griechischen Grundtext, so daß die Behauptung, sie seien von der Lutherübersetzung abhängig bzw. die Bibelkritik sei durch diese gefördert worden, absurd ist.

Durch seine eigene, von Steiners Lehren angeregte Übersetzung des Neuen Testaments nun will Bock "innerhalb einer modernen Sprache die Geistigkeit des griechischen Wortlautes mit der ihr eigenen kosmischen Helligkeit und Weite wieder zum Mitschwingen ... bringen" - und zwar, indem er - wie der Verlag Urachhaus als Herausgeber des Bockschen "Neuen Testamentes" anmerkt - "ein freieres Verhältnis zum überlieferten Text" gewinnt (Bock 1982, 684.677).

Als Beispiel aus dieser „Übersetzung“ betrachten wir den Schluß des Johannesprologs (Joh 1,18):

"Den göttlichen Weltengrund hat nie ein Mensch mit Augen geschaut. Der eingeborene Sohn, der im Schoß des Weltenvaters war, er ist der Führer zu diesem Schauen geworden“ (ebd., 225).

Aus Gott ("theos") wird hier ein "Weltengrund", aus dem Vater ("pater/ patros") ein "Weltenvater" und aus der Verkündigung ("exegesato") des Vaters durch den Sohn eine Hinführung zum "Schauen". Hier wird die Übersetzung offensichtlich durch eine den Wortsinn verfälschende Paraphrase ersetzt. Der Frage, ob ein solches "freieres Verhältnis zum überlieferten Text" für die anthroposophische Bibelauslegung allgemein zutrifft, werden wir ausführlicher in Teil B nachgehen.

Quellenscheidung

Steiner kritisiert in Vorträgen aus den Jahren 1910 und 1912 die Quellenscheidung, insbesondere die Fragmentenhypothese, weil durch sie der einheitliche Geist in der Bibel verlorengegangen sei. Wie er schildert, habe "die Gelehrsamkeit in den letzten Jahrzehnten - eigentlich durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch - das wirkliche Verständnis der Bibel sehr erschwert, indem sie dieselbe zerrissen hat und behauptet hat, daß zum Beispiel das Neue Testament aus allen möglichen Dingen zusammengestellt sei, welche dann später zusammengetragen sein sollen, und daß ebenso auch das Alte Testament eine Zusammenfügung sei aus ganz verschiedenen Dingen, die zu verschiedenen Zeiten zusammengekommen sein sollen". Nach Ansicht der Theologen habe man in der Bibel "lauter Fragmente, die sehr leicht den Eindruck machen, daß sie ein Aggregat, eine Zusammenfügung darstellen, daß sie `zusammengenäht' worden wären im Laufe der Zeit". Steiner urteilt: "Diese Ansicht aber stört das, was als ein wirkliches ernstes Bibellesen der nächsten Zukunft kommen muß." In diesem werde man die Bibel als "etwas Ganzes" nehmen (139,31). In Form der "Regenbogenbibel" hingegen habe man "Fetzen, aber nicht mehr die Bibel" (122,198) - und schon gar nicht den "einheitlichen Geist in der Bibel" (139,32).

Diese Argumentation Steiners haben seine Schüler aufgegriffen und auch auf die Quellenscheidung und Bibelkritik allgemein bezogen. Der "intellektuelle[n] Theologie" und ihrer "Bibelkritik" wirft z.B. Emil Bock im Jahre 1953 vor, daß durch sie "die Bibel zerfetzt wird und in Stücken und Belanglosigkeiten zu Boden fällt" (Bock 1953, 51). Und Friedrich Rittelmeyer beklagt im Jahre 1930 das "Verhängnis der heutigen Bibelwissenschaft", die zwar eine umfangreiche philologische und religionsgeschichtliche Arbeit betreibe, der aber das Entscheidende fehle, nämlich "ein wirkliches Verständnis der geistigen Vorgänge, die sich in den biblischen Schriftstellern vollzogen, für die Welten, in denen sie geistig zu Hause waren,... für den lebendigen Geist der Menschen und der Zeit" (Rittelmeyer 1930, 7).

Hierzu sei angemerkt, daß eine solche Kritik am Verlust des "wirklichen Verständnisses", des "Geistcharakters" und der "Einheit" der Schrift durch eine radikal kritische Betrachtung der Bibel kein Spezifikum der Anthroposophie ist. Sie wurde - freilich mit unterschiedlicher Intention - immer schon von Theologen der "positiven" bzw. konservativen Richtung vorgebracht und ab 1920 auch von Vertretern der Dialektischen Theologie und einer pneumatischen Exegese in die Debatte geworfen. Im Artikel Bibelverständnis kommen wir auf die Thematik "Einheit und Ganzheit" in der Sicht der Anthroposophie ausführlich zu sprechen.

Leben-Jesu-Forschung

Steiner unterscheidet in seiner Christosophie zwischen Jesus als einem Menschen, der historisch existiert hat, und Christus als göttlich-geistigem Prinzip, das sich bei der Jordantaufe in Jesus inkarnierte. Von dieser Unterscheidung ausgehend, betrachtet er die Leben-Jesu-Forschung und die "Christus-Forschung" wie zwei Pole, deren Vertreter Vereinseitigungen erlegen sind.

Die Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts habe den "Christus" und seine "Wunder" verloren, indem sie aufgrund ihrer "materialistischen Anschauung" die Evangelien als historische Dokumente mißverstanden habe. Sie meinte, "wenn man alles Übersinnliche herausnimmt und kombiniert, was in den verschiedenen Evangelien zusammenstimmt oder nicht zusammenstimmt, dann ließe sich daraus so etwas wie eine Biographie des Jesus von Nazareth herstellen". Steiner zitiert das (bis auf Reimarus und David Friedrich Strauß zurückgehende) "Wort von dem `schlichten Mann aus Nazareth`“. "Immer mehr und mehr richtete man den Blick bloß hin auf den Jesus von Nazareth" (139,183ff).

Dieser Ansatz aber sei gescheitert, denn "im Sinne von historischen Dokumenten können die Evangelien als solche selbstverständlich nicht gelten. Es sind ihrer vier, und für eine äußere materialistische Betrachtungsweise widersprechen sie sich alle" (ebd). Als Belege hierfür nennt Steiner u.a. Stellen aus Schriften Otto Schmiedels und Adolf Harnacks (619,111). Nur auf einer höheren, "geistigen" Ebene läßt sich nach seiner Ansicht die Einheit der Evangelien herbeiführen und ein zutreffendes Bild von dem Christus Jesus gewinnen.

Steiner kritisiert also die Reduktion auf den "äußeren Menschen" im liberalen Jesusbild (139,183) und den Versuch, die Biographie dieses veräußerlichten Jesus aus den Evangelien zu erheben, aber er bestreitet nicht die Existenz des historischen Jesus an sich. Darin berührt er sich mit dem Urteil Albert Schweitzers, der feststellt:

"Das historische Fundament des Christentums, wie es die rationalistische, die liberale und die moderne Theologie aufgeführt haben, existiert nicht mehr, was aber nicht heißen will, daß das Christentum deshalb sein historisches Fundament verloren hat“ (Schweitzer 1984, 621).

Die Position Steiners tritt im nächsten Abschnitt noch deutlicher hervor.

"Christus-Forschung"

Mit "Christus-Forschung" bezeichnet Steiner die Untersuchungen v. a. von William Benjamin Smith und Arthur Drews, die die Existenz des historischen Jesus bestreiten. Nach deren Ansicht habe "ein Jesus von Nazareth ... überhaupt nicht in Wirklichkeit existiert; der ist nur eine Sage ... Ja, er ist ein erdichteter Gott, ein Idealbild" (139,186). Steiner gesteht zu, daß man im Unterschied zur oben geschilderten Leben-Jesu-Forschung "doch den Gottmenschen" gefunden habe und "in den letzten Jahren von dem Jesus zurückgekehrt [ist] zu dem Christus; aber der Christus ist überhaupt nichts Wirkliches, sondern lebt nur in den menschlichen Gedanken" (ebd).

Drews redet von der "Christusmythe". Er erklärt die Evangelienberichte für mythisch und eliminiert Jesus als historische Gestalt. Bei Steiner hingegen fließen Mythos und höchst eigenwillig gedeutete Historie zusammen. Er spricht davon, "wie alles, was Geheimnis in den alten Mysterien ist, wieder auflebt in den Evangelien ... wir finden da gewisse Punkte, die sich vollziehen im äußeren historischen Leben, und dieselben Punkte sind es, die sich abspielen in den Mysterien bei dem, der die Einweihung sucht" (123,209f). Die Evangelien sind für Steiner also Mysterien- oder Einweihungsbücher, und das Christusleben ist ein zur Historie gewordenes Mysterium. Im Vorgriff auf den nun folgenden Abschnitt kann man davon reden, daß Steiner die biblischen Inhalte nicht eliminiert (auslöscht), sondern interpretiert (deutet).

Existentiale Interpretation

Auch Rudolf Bultmann, der Begründer und Hauptvertreter der existentialen Interpretation, möchte die "mythischen" Aussagen des Neuen Testaments nicht eliminieren, sondern interpretieren - "existential" interpretieren:

"Kann man schematisch sagen, daß in der Epoche der kritischen Forschung die Mythologie des Neuen Testaments einfach kritisch eliminiert wurde, so wäre - ebenso schematisch gesagt - die heutige Aufgabe die, die Mythologie des Neuen Testaments kritisch zu interpretieren“ (Bultmann, „Neues Testament und Mythologie“, KuM I, 25).

Bultmann geht davon aus, daß das neuzeitlich-naturwissen-schaftliche Denken, welches das "moderne Weltbild" konstituiert, "das mythologische Weltbild der Bibel zerstört" hat." Demgegenüber will eine "entmythologisierende Interpretation" im Anschluß an die - namentlich von Martin Heidegger entwickelte - Begrifflichkeit der "Existenz-Philosophie" die "eigentliche Intention der biblischen Schriften" erst zur Geltung bringen. Ziel der Interpretation ist es, wie Walter Schmithals (1967, 269) formuliert, "den Sinn des Mythos als `anthropologisch', das heißt als die Existenz des Menschen betreffend", zu enthüllen. Eine kosmologische Interpretation, die darüber hinausgeht, die z. B. von "jenseitigen Mächten ... wie von weltlichen, objektivierbaren Gegebenheiten spricht", wird abgelehnt.

"Der eigentliche Sinn des Mythos ist nicht der, ein objektives Weltbild zu geben; vielmehr spricht sich in ihm aus, wie sich der Mensch selbst in seiner Welt versteht; der Mythos will nicht kosmologisch, sondern anthropologisch - besser: existential interpretiert werden", betont Bultmann (1958, 16).

Damit treten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur anthroposophischen Position klar zutage. Gemeinsam geht es der existentialen und der anthroposophischen Interpretation darum, die "mythischen" Elemente der biblischen Schriften nicht zu eliminieren, sondern sie zu interpretieren. Das wurde bereits festgestellt. Doch wie diese Interpretation aussieht, daran scheiden sich die Geister.

Insbesondere die anthropologische Engführung Bultmanns wird von den Befürwortern der anthroposophischen Exegese bemängelt. So spricht Gerhard Wehr (1968, 27ff) von einer "Reduzierung des Kerygma auf den Existenzbezug", die "jede Frage nach einer `objektivierbaren' transzendent-geistigen Wirklichkeit oder Dimension" abschneide. Im Gegensatz dazu gehe es Rudolf Steiner "gerade um die Erschließung der geistigen Realität und Faktizität", von denen die Bibel überall dort spreche, wo sie sich "in der Sprache und im Bilde des Mythos, also metaphorisch" äußere. Wehr zitiert warnend den gegen Bultmann gerichteten Satz des Theologen Wilhelm Knevels: "Wer den Mythos existentialisiert, verarmt.“ Er verarmt eben deshalb, weil er sich gegen die im Mythos zur Sprache kommende spirituelle Dimension der Wirklichkeit verschließt.

Die anthropologische Engführung Bultmanns hängt mit dem materialistischen Weltbild zusammen, dem er nach dem Urteil der anthroposophischen Exegese verfallen ist. Einen bekannten Ausspruch Bultmanns aufgreifend, stellt Rudolf Frieling („Neues Bibelverständnis“, ChrGem 1960, 33) die Frage, warum eigentlich "Elektrizität und Radio ein Einwand gegen das Dasein der im Evangelium erwähnten Dämonen" sein sollen. Frieling äußert die Ansicht, daß Bultmann "völlig im Banne des materialistischen Weltbildes stehend ... mit gänzlich untauglichen Mitteln" an die Interpretation der Bibel herangehe. Die Folge davon charakterisiert Frieling (1974, 18) so: "Verschreibt man sich ... dem materialistischen Weltbild, so zerrinnen die neutestamentlichen Inhalte hoffnungslos!" Die "Entmythologisierung", die Bultmann fordert, käme somit - wie wir auch formulieren können - letztlich doch einer Eliminierung wesentlicher biblischer Inhalte gleich.

Diese Kritik berührt sich auf den ersten Blick auffallend mit der Kritik konservativer Theologen - insbesondere aus der lutherischen, reformierten und pietistischen Tradition -, die gegenüber dieser anthropologischen Engführung an der Faktizität und transsubjektiven Wirklichkeit des in der Bibel bezeugten Heilsgeschehens festhalten (z.B. Künneth 1982, 45; Rodenberg 1963, 36). Doch auf den zweiten Blick stellt sich die Frage, ob die theologischen und die anthroposophischen Kritiker dieselbe transsubjektive Wirklichkeit meinen. Wie sich in Teil B zeigen wird, ist das nicht der Fall.

Ferner lehnen manche theologischen Kritiker, etwa Walter Künneth (1982, 55), den Mythosbegriff in bezug auf die biblischen Inhalte ab Steiner hingegen möchte an diesem Begriff gerade festhalten (s. o.). Eine solche Rückkehr zum Mythos ist inzwischen allerdings kein Spezifikum der Anthroposophie mehr. Sie findet sich - das sei hier zumindest angedeutet - auch in neueren theologischen Entwürfen, etwa im Rahmen einer feministischen Theologie (Feminismus) und einer tiefenpsychologischen Hermeneutik eines Eugen Drewermann, die ihrerseits wieder anderen Systemen ihr Ungenügen im Blick auf die "geistige" Dimension der Wirklichkeit vorwerfen. Die Frage, ob eine solche Rückkehr zum Mythos theologisch zu rechtfertigen ist und ob die biblischen Schriften als "Einweihungsurkunden und Meditationstexte" zu verstehen sind, haben wir im Artikel Bibelverständnis aufgegriffen.

"Orthodoxe" und "fundamentalistische" Interpretation

Genauso wie gegen eine quellenkritische Auflösung und eine Entmythologisierung wenden sich die anthroposophischen Ausleger gegen ein "Wörtlichnehmen" der biblischen Texte. Dieses "Wörtlichnehmen" werfen sie den Vertretern einer "orthodoxen" und einer "fundamentalistischen" Interpretation vor. Es sei ein Kennzeichen materialistischen Denkens.

Wie die weitere Darstellung zeigt, wird der Begriff "Orthodoxie" dabei nicht näher definiert, sondern in einem sehr weiten Sinn gebraucht (Rittelmeyer z. B. spricht von der "Orthodoxie jeder Färbung"). Doch wird aus der Argumentation deutlich, daß die anthroposophische Kritik im Grunde die von der altprotestantischen Orthodoxie betonten und ausgestalteten Lehren von der Verbalinspiration und Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift meint. Insbesondere die seit Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA hervorgetretene Bewegung eines protestantischen "Fundamentalismus" hat diese Lehren neu entfaltet und ihnen in ihren "fundamentals" eine hervorragende Stellung eingeräumt, wobei diese freilich nicht immer eindeutig definiert wurden - d. h. auch der sogenannte Fundamentalismus bildete keine geschlossene Einheit (vgl. Sandeen 1970).

In einem Vortrag im Jahre 1906 wirft Rudolf Steiner dem "orthodoxen Bibelgläubigen" (einen konkreten Namen nennt er nicht) vor, daß er die mosaische Schöpfungsgeschichte - insbesondere den Bericht von den sieben Schöpfungstagen - wörtlich verstehe, was jedoch falsch sei: Die mosaische Schöpfungsgeschichte "ist niemals wörtlich zu nehmen. Wir haben es dabei mit langen, langen Zeiträumen zu tun". Die Auffassung vom Wörtlichnehmen der sieben Schöpfungstage sei erst zu Beginn der Neuzeit "durch den Materialismus hereingekommen". Nicht die wörtliche, "materialistische", sondern die "spirituelle" Auslegung sei jedoch die historisch ursprüngliche gewesen: "Was früher spirituell aufgefaßt wurde, in das wurde die materialistische Gesinnung hineingelegt." So ergibt sich für Steiner die paradoxe Situation, daß eine materialistische "Wissenschaft", nämlich der Darwinismus (Evolutionismus), und eine materialistisch geprägte Bibelauslegung miteinander im Streit liegen: "Jetzt bekämpft die Wissenschaft etwas, was die materialistische Weltauffassung [sc. in die Bibel] hineingebracht hat" (94,228). Eine Lösung dieses Konflikts wird nur in der Beschreitung einer höheren Ebene, in der Wiedergewinnung der spirituellen Dimension gesehen, die sich sowohl auf die Interpretation des Darwinismus als auch der Bibel erstreckt.

Friedrich Rittelmeyer wirft im Jahre 1930 der "Orthodoxie jeder Färbung" ein Abschneiden des spirituellen Bereichs, ein Aufrichten selbstgesteckter Erkenntnisgrenzen vor, indem sie durch die Betonung der "Unergründlichkeit Gottes" und der "Einzigartigkeit der göttlichen Geschichte" ein Nachdenken der Gedanken Gottes verhindere. Als Beispiel nennt Rittelmeyer die Wunderinterpretation des Neutestamentlers Theodor Zahn, etwa im Blick auf den Bericht vom Meerwandeln Christi in Joh 6,16-21: "Der berühmte Kommentar zum Johannesevangelium von Theodor Zahn läßt das äußere Wunder als ein physisches Geschehen unberührt von jedem Versuch, verstehend einzudringen in das, was sich da begeben haben mag." Die wahre Unergründlichkeit Gottes trete jedoch erst dann hervor, "wenn der Mensch wirklich an seine Grenze gekommen ist, nicht dann, wenn der Mensch sich selbst eine Grenze setzt aus vermeintlicher Frömmigkeit" (Rittelmeyer 1930, 10).

Was Steiner im Jahre 1906 und Rittelmeyer im Jahre 1930 im Blick auf die "orthodoxen Bibelgläubigen" kritisieren, das tadelt Gerhard Wehr im Jahre 1968 in ganz ähnlicher Weise am "Fundamentalismus": Er klammere sich "an ein wörtliches Verstehenwollen der biblischen Texte", sperre sich gegen "modernes Denken" und sehe vor allem "keine Möglichkeit, das Denken und die wissenschaftlichen Forschungsmethoden soweit zu spiritualisieren, daß dies Denken zu einem angemessenen Instrument der notwendigen Neu­erschließung des Evangeliums" werden könne (Wehr 1968, 15). „Wer den Mythos existentialisiert, verarmt" - so hatte Wehr im Rückgriff auf Wilhelm Knevels seine Kritik an der existentialen Interpretation zusammengefasst (s.o.). Seine Kritik an der fundamentalistischen Interpretation begründet er ebenfalls mit einem Satz Wilhelm Knevels': "Wer ihn [sc. den Mythos] buchstäblich nimmt, erstarrt" - eben weil ihm die Möglichkeit zur Erschließung neuer spiritueller Dimensionen - über den vorgegebenen Bibeltext und seinen Wortlaut hinaus - verlorengehe (ebd., 30).

Auch James Barr (1981, 280.79ff), der den Fundamentalismus aus liberaltheologischer Sicht kritisiert, beklagt den - seines Erachtens "rationalistischen" - Versuch einer orthodoxen oder fundamentalistischen Glaubenshaltung, die Schrift gegen rationalistische Kritik von außen abzusichern: "Es ist erstaunlich, daß eine religiöse Form, die so sehr den persönlichen Glauben an Christus betont, gleichzeitig so sehr von einem rational begründeten Beweis der Bibel abhängt.“ Was allerdings die Frage der buchstäblichen Auffassung der Schrift angeht, so stellt Barr fest, daß es "sicherlich falsch [ist], behaupten zu wollen (wie das oft geschieht), daß für die Fundamentalisten das Wörtliche der einzige Sinn der Wahrheit ist". Nicht die Wörtlichkeit, die variieren kann, sondern die "Unfehlbarkeit" ist der "konstante Faktor jeder fundamentalistischen Bibelauslegung": "Auch den Konservativ-Evangelikalen ist die Kategorie des Gleichnishaften und Symbolischen bekannt."

Wie im Unterschied zu den dargestellten und von der Anthroposophie allesamt als "materialistisch" abgelehnten "liberalen" und "orthodoxen" Auslegungsmethoden der anthroposophische Zugang zu den "höheren Welten" und zur Heiligen Schrift selber aussieht, untersuchen wir im folgenden Teil.

Der Anspruch auf "Wiedergewinnung der spirituellen Dimension" durch den anthroposophischen Zugang zur Bibel

Der anthroposophische Zugang zur Bibel erfolgt über einen Dreischritt: Am Anfang stehen die "Erkenntnisse höherer Welten". Durch sie gelangt man zum Lesen der "Akasha-Chronik". Die Akasha-Chronik wiederum bildet die Grundlage für die "spirituelle Interpretation".

1. Die spirituelle Interpretation als "Rettung" der Bibel

1.1. Darstellung der spirituellen Interpretation

1.1.1 Hintergründe, Wurzeln und Definitionen

Für die anthroposophische Bibelauslegung finden sich mehrere Bezeichnungen, die wir im einzelnen noch kennenlernen werden. Als Oberbegriff, der neben manchen anderen Interpretationsweisen auch die anthroposophische Bibelauslegung einschließt, wählen wir - mit G. Wehr (1968, 46ff) - die Bezeichnung "spirituelle Interpretation". Spirituelle Interpretation ist nach Wehr eine Interpretationsweise, die von der "Anerkennung des Spirituellen als eines Existierenden" ausgeht. Sie tritt damit in Gegensatz zu allen Interpretationsweisen, die nach Ansicht der Anthroposophie eine solche "spirituelle Dimension" nicht kennen (s.o.). "Freilich - und diesem Punkt dürfte besonderes Gewicht zukommen - die Gesprächspartner werden zu definieren haben, was unter dem Spirituellen oder unter der Anerkennung der 'göttlich-geistigen Welt', wie sich Steiner wiederholt ausgedrückt hat, verstanden werden soll", gibt Wehr selber zu bedenken. Bei Steiner ist die spirituelle Dimension das Ergebnis seiner hellseherischen Schauungen. Es ist in der Tat zu fragen, ob und inwiefern diese hellseherisch geschaute Dimension mit dem biblisch-theologischen Denken übereinstimmt und ob somit eine "'Spiritualisierung des theologischen Denkens" im Sinne Steiners, wie Wehr sie fordert, auf diese Weise möglich ist.

Wehr spricht im Blick auf Steiners Bibelauslegung von "Mehrdimensionalität". Mehrdimensional im Sinne Wehrs ist Steiners Auslegung insofern, als dieser nicht wie die traditionelle Exegese vom philologisch-historisch zu erfassenden Wortlaut des Textes ausgeht und sich erst recht nicht wie der Fundamentalismus (angeblich) mit den wörtlichen Aussagen der Bibel begnügt oder wie die Existentialtheologie auf den "reinen Existenzbezug eines Textes" konzentriert, sondern sein besonderes Augenmerk auf die "Durchleuchtung des Übersinnlichen" richtet, das seiner Ansicht nach hinter oder über den Texten steht. Emil Bock möchte die anthroposophische Auslegung gegen den Vorwurf der in der vorreformatorischen Exegese verbreiteten Allegorisierung abgrenzen:

"Ein abstraktes Denken wird einer Evangelienauffassung, die auf das Übersinnliche hinblickt, immer den Vorwurf machen: Ihr verliert den Boden der Geschichte und löst alles in Allegorien auf. Das rührt davon her, daß das abstrakte Denken immer zum Entweder-Oder neigt und nicht die Kraft zum Sowohl-als-auch hat. Es meint: entweder geistige oder physische Auffassung. Es kann nicht verstehen, daß physisch-reale Vorgänge zugleich Sinnbilder, Realsymbole für Übersinnliches, Verkörperungen von Geistigem, sein können" (Ev,39).

So handelt es sich bei der anthroposophischen Exegese nach der Selbsteinschätzung ihrer Vertreter eher um "symbolische" als um "allegorische" Schriftauslegung, wobei allerdings die Begriffe nicht immer exakt auseinandergehalten werden (s.u.). Allegorie nämlich bedeutet, „daß ein sprachlicher Ausdruck oder eine Kunstform bildlicher oder monumentaler Art etwas anderes aussagt (álla agoreúei), einen tieferen Sinn als den buchstäblichen oder unmittelbaren hat" (C.-M. Edsman, Art. „Allegorie“. I. Religionsgeschichtlich“, RGG 3. Aufl. I/1957, Sp. 238). Sie will im Text "neben dem Erstsinn einen Zweitsinn entdecken", der - ist er nicht durch den Kontext oder ein anderes Bezugssystem festgelegt - "zunächst ein beliebiger" sein kann (Pietron 1979, 29). Symbol hingegen ist - um mit Paul Ricoeur (1974, 24) zu reden - jene sprachlicheForm, die "das Lesen eines anderen Sinns im ersten, wörtlichen, unmittelbaren Sinn erheischt". Nicht abgehoben vom Buchstaben und der Historie, nicht über und neben dem Erstsinn (wie bei der Allegorese), sondern nur innerhalb und vermittels des Erstsinns soll der Zweitsinn bei der symbolischen Schriftauslegung gewonnen werden. Deshalb wird sie auch als "symbolisch-historische" oder "symbolisch-reale" Auslegung bezeichnet. Schon Steiner hatte gesagt:

"Alle Namen und Bezeichnungen in den alten Zeiten sind in einer gewissen Weise durchaus real - und zu gleicher Zeit tief symbolisch gebraucht ... Nicht die historische Realität wird durch eine symbolische Erläuterung geleugnet, sondern es muss betont werden, daß die esoterische Erklärung beides umfasst: die Auffassung der Tatsachen als historische - und, indem sie historisch sind, bedeuten sie selbst zugleich das, was wir ihnen beilegen ... Symbolisch und historisch zugleich, nicht nur das eine und nicht nur das andere, das ist es, um was es sich handelt bei der wirklichen Evangelien-Erklärung" (103,81).

G. Wehr (1968, 30f) führt diese Gedanken weiter aus. Er zitiert zunächst den Theologen W. Knevels (1964, 77):

"Die mythische Sprache, die mythische Erzählung und das mythische Bild sind symbolisch; das, was gemeint ist, steht dahinter, man muß es entdecken, man muß durchschauen. Aber gemeint ist nicht bloß eine Idee, ein Bedeutungsgehalt, sondern eine echte Wirklichkeit, eine übergeschichtliche Wirklichkeit, Gott selbst, sein Erscheinen und sein Handeln."

Dann fährt Wehr selber fort:

"Von daher gesehen nennt Knevels drei Möglichkeiten, den biblischen Mythos aufzufassen: einmal `massiv-geschichtlich-natürlich', es ist ein buchstäbliches Verstehen; dann `illusionär, psychologisch, religionsgeschichtlich, existentialistisch und so weiter'. Beide Möglichkeiten ... lehnt Knevels zugunsten der dritten Möglichkeit [ab], die er 'symbolisch-real' nennt und bei der der Mythos `eine unirdische, göttliche Wirklichkeit (ausdrückt), die im Irdischen erscheint beziehungsweise an dem Irdischen sichtbar wird'."

Die Bezeichnung "symbolisch-real" möchte Wehr mit der ähnlichen Ausdrucksweise Steiners verbinden und somit einen "Brückenschlag zwischen der Interpretationsweise Steiners und der auf theologischen Fundamenten errichteten von Knevels" nahelegen. Sehen wir einmal von der unterschiedlichen Gottesvorstellung in Theologie und Anthroposophie (Gottesbild) ab, dann können wir verstehen, wie Wehr dazu kommt. Für die Anthroposophie nämlich sind die Ereignisse auf dem irdischen Plan Widerspiegelungen und Manifestationen von Ereignissen in der übersinnlichen Welt. In den Evangelien z.B. finden sich - so sagt Steiner - "gewisse Punkte, die sich vollziehen im äusseren historischen Leben, und dieselben Punkte sind es, die sich abspielen in den Mysterien bei dem, der die Einweihung sucht" (123,210). Wie wir im Artikel Christosophie belegen, gilt für Steiner das Christusleben selbst als ein zur Historie gewordenes Mysterium. So sollen sich also in den "realen" und "historischen" Schilderungen der Bibel und durch sie hindurch "Mysterien" einer übersinnlichen Welt offenbaren. Die irdisch-historische Realität ist das Symbol, die Bibel der Symbolträger dafür. Um diese Symbolwelt eindeutig und richtig zu entziffern, ist jedoch die Kenntnis der Akasha-Chronik notwendig.

1.1.2 Der "okkulte" Zugang zur Schrift

Betrachten wir nun verschiedene Aussagen Steiners zur Bibelauslegung, so erhalten wir auf den ersten Blick ein Bild großer Uneinheitlichkeit. Zum einen will Steiner die allegorische oder "mystische" Auslegungsmethode gebrauchen und meint, daß für die "mystische Auslegung ... eben die geschichtliche Untersuchung gar nicht in Betracht" kommt (619,114). Zum anderen wertet er die "allegorisch-symbolische" Auslegung ab, denn - wie er selber sieht - kann sie "sehr geistreich sein, aber sie ist vielfach willkürlich" (94,161). Zudem wird durch die Zusammenziehung von "allegorisch" und "symbolisch" zu einem Begriff deutlich, daß Steiner der oben genannten Unterscheidung dieser Begriffe (welche übrigens auch Wehr vornimmt) nicht immer Beachtung schenkt. So zeigt sich spätestens hier, wie berechtigt Wehrs Hinweis ist, daß Steiner "nicht die Sprache des Theologen", sondern "des Esoterikers" spricht und damit "in anderen Kategorien" denkt" (Wehr 1968, 44).

Trotz dieser (sprachlich-formalen und kategorial-inhaltlichen) Schwierigkeit wollen wir nachfolgend Steiner weiter befragen, um herauszufinden, wie denn nun sein Zugang zur Schrift aussieht. Wir zitieren dazu den äußerst aufschlußreichen direkten Kontext der eben angeklungenen Stelle. Steiner unterscheidet folgende Zugänge zur Bibel:

"Die religiösen Urkunden können von vier Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Erstens: Naiv und wörtlich genommen. Zweitens: Vom Standpunkt der Wissenschaft aus, die sich für klüger hält als die Verfasser dieser Urkunden. Drittens: Allegorisch-symbolisch in der Auslegung: Diese Art der Auslegung kann sehr geistreich sein, aber sie ist vielfach willkürlich. Viertens: Vom okkulten Standpunkt aus, indem man die Tatsachen, die in der eigentümlichen Sprache derartiger Dokumente verfaßt sind, wiederum exakt auffaßt und dadurch wieder ein wörtliches Verständnis gewinnt. So ist zum Beispiel der Regenbogen des Noah kein Symbol, sondern der Ausdruck dafür, daß nach dem Untergang der Atlantis und dem Abziehen der Nebel ein Regenbogen erst möglich war" (94,161f).

Steiner kennzeichnet hier deutlich seinen Ausgangspunkt: Es ist nicht die Bibel, sondern die "okkulte" Forschung, d. h. die hellseherisch geschaute Akasha-Chronik und die daraus abgeleitete "Geheimwissenschaft". Dieser "okkulte Standpunkt" liefert ihm sein Vorverständnis für die Interpretation der biblischen Schriften. Er liest sie nicht "naiv und wörtlich" (wie der "einfache" Bibelleser), nicht "wissenschaftlich" (wie dies z.B. die historisch-kritische Forschung für sich beansprucht), auch nicht "allegorisch-symbolisch" (all das sind für ihn Zugänge, die sich als "exoterisch" bezeichnen lassen), sondern vom okkult-hellseherischen Standpunkt her ("esoterischer" Zugang).

Die überraschende Konsequenz daraus ist, daß Steiner dadurch ein neues "wörtliches" Verständnis der Bibel und eine "exakte" Auffassung der in ihr geschilderten Tatsachen gewinnen will. Anders ausgedrückt: sein Verständnis der Bibel soll ihm nicht den (symbolisch vermittelten) Zweitsinn, sondern den (eigentlichen und ursprünglichen) Erstsinn der Schrift liefern. So offenbare sich dem Hellseher z.B. die wirkliche - naturwissenschaftliche - Bedeutung des Regenbogens in der Noah-Geschichte, während die übrige Menschheit diese Bedeutung nicht mehr wahrnehmen könne und nur noch ein Symbol darin sehe.

Die Frage nach dem Erstsinn in einem Text ist in der Tat von entscheidender Bedeutung, weil er allein der maßgebliche Sinn ist. Alle weiteren "Sinne" (Zweitsinn, evtl. auch noch Drittsinn usw.) unterliegen der Gefahr und dem Verdacht subjektiver Willkür. So verstehen wir Steiners Bemühen, seiner Auslegung den Rang des Erstsinns zu sichern, der in einem neuen Wörtlichnehmen des Textes bestehen soll.

Der Erstsinn, der einem Text beigelegt wird, ist nun freilich auch keine "objektive" Größe, sondern hängt - um mit Th.S. Kuhn (1967) zu reden - von dem "Bezugsrahmensystem" oder "Paradigma" ab, in dem der Interpret steht. Das Paradigma wiederum wird von der jeweiligen Weltanschauung bestimmt. Daraus folgt: was für Steiner der Erstsinn und somit "wörtlich" zu nehmen ist, wird von seiner Weltanschauung bestimmt. Daraus folgt weiter: wer in Steiners Weltanschauung nicht "drinnen" steht und etwa von einem "naiv-wörtlichen" Standpunkt herkommt, wird Steiners Auslegung nicht als "wörtliche", sondern als "symbolische" oder "allegorische" ansehen.

Welche Bezeichnung gewählt wird, ist also eine Frage des Ausgangspunktes. Das erklärt nun auch ein Stück weit, warum Steiner wechselnde und scheinbar einander widersprechende Bezeichnungen für seine Auslegungsweise wählt (von seinem Denken in nichttheologischen Kategorien und einer generellen sprachlichen Ungenauigkeit - es handelte sich meist um freie Rede - abgesehen; s.o.). Wir differenzieren folgendermaßen:

Wenn Steiner vom Esoteriker (Eingeweihten) her denkt, spricht er von "wörtlicher" Auslegung. Wenn er vom Exoteriker (Nichteingeweihten) her denkt, spricht er von "symbolischer" Auslegung. Was dem Esoteriker wörtlich "einleuchtet", ist für den Exoteriker nur im Weg über das Symbol (andeutungsweise) zu verstehen. Was für den Esoteriker Erstsinn ist, ist für den Exoteriker (möglicher und durch den Esoteriker zu erschließender) Zweitsinn. Was für den Exoteriker Erstsinn ist, ist für den Esoteriker eine veräußerlichte, materialistische oder bestenfalls in der imaginativen Ebene des Symbols steckenbleibende Auslegung.

Die exoterischen Wege sind nach anthroposophischer Auffassung ungenügend: Die Allegorie ist vielfach willkürlich und damit ungewiß. Der symbolisch-exoterische Zugang bleibt auf der Stufe der Imagination stecken. Er bedarf der Hilfe der okkulten Interpretation des Esoterikers, um zu den weiteren Stufen der Inspiration, der Intuition usw. und damit zum Geist der Schrift vorzustoßen. Nur der Esoteriker erkennt die Übereinstimmung zwischen der Akasha-Chronik und dem Geist der Schrift, die aus ihrer veräußerlichten, materialistischen (an Buchstabe, Geschichte, Existenz usw. klebenden) Interpretation zur Höhe des Geistes erhoben werden muß, um ihre übersinnlichen, spirituellen Wahrheiten zu offenbaren. Das leistet die spirituelle Interpretation. Wir wenden uns nun der theologischen Kritik zu.

1.2 Theologische Kritik der spirituellen Interpretation

1.2.1 Die Kriterien der Beurteilung

Die Kriterien, welche zur Beurteilung der geistigen Schriftauslegung bzw. spirituellen Interpretation dienen können, entstammen der reformatorischen und zum Teil bereits der vorreformatorisch-katholischen Tradition. Wir fassen sie in folgende Thesen zusammen:

  1. Geist und Buchstabe sind eine untrennbare Einheit. Deshalb kann der geistige Sinn nicht neben dem, sondern nur in dem buchstäblichen Sinn (als Erstsinn) gesucht werden.
  2. Eine spirituelle Interpretation darf sich gegenüber dem Bibeltext nicht verselbständigen. Sie muß den unmittelbaren und gesamtbiblischen Zusammenhang sowie die Intention des Verfassers beachten und von den klaren Stellen der Schrift - d.h. von ihrem buchstäblichen Wortsinn (Literalsinn) - ausgehen
  3. Der Literalsinn ist die normale, einfache Wortbedeutung, die sich geschichtlich und sprachlich aus dem Textzusammenhang ergibt. Diese Regel fordert, Erzählung als Erzählung, Dichtung als Dichtung, Geschichtsbericht als Geschichtsbericht, Gleichnis als Gleichnis, Allegorie als Allegorie usw. auszulegen. Bildhafte Ausdrücke (Metaphern, Gleichnisse usw.) etwa gehören gar nicht zum geistigen, sondern zum buchstäblichen Sinn, wo es sich vom Wortsinn und Kontext her um uneigentliche Rede handelt.
  4. Wenn die spirituelle Interpretation bei der Auslegung unklarer oder "geheimnisvoller" Stellen zu weitergehenden, über den Literalsinn hinausreichenden Aussagen gelangt, so dürfen diese nicht in Widerspruch zum Inhalt der klaren Stellen treten. Vielmehr muß sich die "geistige" von der buchstäblich-wörtlichen Deutung her verifizieren oder falsifizieren lassen. Die spirituelle Interpretation soll Exegese (Auslegung), keine "Eisegese" ("Einlegung", Hineininterpretation) sein.
  5. Lassen sich die Aussagen der spirituellen Interpretation nicht am klaren, buchstäblichen Wortsinn verifizieren, so sind sie nicht zur Argumentation geeignet, da ihnen Eindeutigkeit fehlt.

Nun beansprucht die Anthroposophie, eine "symbolisch-reale" bzw. "symbolisch-historische" Auslegung zu betreiben, die nicht neben dem Erstsinn (wie bei der allegorischen Auslegung), sondern in dem Erstsinn des Textes den Zweitsinn entdecken möchte - ja noch mehr: die durch ein neues "Wörtlichnehmen" den eigentlichen Erstsinn erst erschließen will (s. o.). Wird sie diesem Anspruch gerecht?

1.2.2 Zwei Beispiele anthroposophischer Exegese

Zur Beantwortung dieser Frage gelangen wir, indem wir zunächst einige repräsentative Beispiele Steinerscher Exegese betrachten. Es sind Beispiele für sein neues "wörtliches Verständnis" vom "okkulten Standpunkt" aus (94,161). Das erste Beispiel (die Deutung des Regenbogens in Gen 9) gebraucht Steiner unmittelbar, um seine Auslegungsmethode zu illustrieren. Es ist deshalb von besonderem Gewicht. Steiner sagt:

"So ist zum Beispiel der Regenbogen des Noah kein Symbol, sondern der Ausdruck dafür, daß nach dem Untergang der Atlantis und dem Abziehen der Nebel ein Regenbogen erst möglich war. In der alten Atlantis konnte es ja noch keinen Regenbogen geben. Noah ist als der Führer, Manu, anzusehen, der die Völker aus der untergehenden Atlantis herauszuführen hatte. In diesem Zeitpunkt geschah es, daß zum erstenmal der Regenbogen entstand" (94,161f).

Diese "Exegese" widerspricht in zweifacher Hinsicht den oben genannten Prinzipien:

  1. Sie trägt völlig andere, spekulativ-mythische Vorstellungen ("Atlantis", "Manu"), die mit einem vorgegebenen, nicht verifizierbaren Geschichtsbild verbunden werden, an die biblische Schilderung heran. Für diese Vorstellungen gibt es zwar Anhaltspunkte in der Sagenwelt außerchristlicher Überlieferungen oder Religionen, nicht jedoch in den biblischen Berichten selber. Die Behauptung, daß Noah der "große Manu" und der "Führer derjenigen Mysterienstätte in der alten Atlantis [war], die sich aus allen anderen als ein hell-leuchtendes Zentrum heraushob" (so Bock I,79), ist reine Phantasie.
  2. Verschiedene Einzelheiten dieses Weltbildes treten überdies in direkten Gegensatz zum Wortsinn des Textes, z.B. die Behauptung, Noah habe "die Völker aus der untergehenden Atlantis" herausgeführt (der Erzähler in Gen 7,7 spricht lediglich von "seinen Söhnen, seiner Frau und den Frauen seiner Söhne"; vgl. auch 1. Petr 3,20; 2. Petr 2,5) oder der Regenbogen sei "kein Symbol" (Gen 9,12 kennzeichnet ihn ausdrücklich als "Zeichen" bzw. "Symbol" - hebr. "ot" - des Bundesschlusses Gottes mit den Überlebenden; diese eigentliche theologische Bedeutung des Regenbogens für den biblischen Erzähler geht bei der naturmythologischen Deutung Steiners völlig verloren).

Es handelt sich somit nicht um "Exegese", sondern um "Eisegese", um die Hineininterpretation fremder Inhalte in den Text. Die Person des Noah und der Begriff des Regenbogens werden nicht in ihrem vom biblischen Kontext und Wortsinn her festgelegten Gehalt erfaßt, sondern lediglich in einem formalen Sinn als Bindeglieder benutzt, um die eigenen, angeblich von der "Akasha-Chronik" diktierten, in Wirklichkeit aber assoziativ gewonnenen Inhalte in sie hineinzutragen.

Als zweites wählen wir ein Beispiel aus dem Neuen Testament. Nach Joh 13,18 sagt Jesus im Anschluß an Ps 41,10: "Der mein Brot ißt, der tritt mich mit Füßen." Steiner gibt folgende Deutung:

"Dieses Wort muss wörtlich genommen werden. Der Mensch isst das Brot der Erde - und wandelt mit seinen Füssen hier auf dieser Erde herum. Ist die Erde der Leib des Erdengeistes, das heisst des Christus, dann ist der Mensch derjenige, der mit den Füssen herumwandelt auf dem Erdenleib, der also den Leib dessen, dessen Brot er isst, mit Füssen tritt" (103,133).

Auch mit dieser Deutung verliert Steiner den Wortsinn gerade; denn vom Wortsinn her handelt es sich in Ps 41,10 um ein Bildwort, das den Verrat des ehemaligen Freundes zum Ausdruck bringt. Die Auslegung als Bildwort ist die wörtliche, weil vom Textzusammenhang geforderte Auslegung. Das macht sowohl der Kontext von Ps 41 als auch der Kontext im Joh deutlich. Die Stelle in Ps 41 lautet im Zusammenhang: "Auch mein Freund, dem ich vertraute, der mein Brot aß, tritt mich mit Füßen" (V. 10). Das gemeinsame Mahl ist Zeichen einer "unverletzlichen Vertrauensbindung" und „communio“ (Gemeinschaft), die von dem ehemaligen Freund aufgekündigt wird (Kraus I/1966, 314).

Diese Aufkündigung der communio nimmt auch Judas Ischarioth vor, indem er Jesus verrät und so "mit Füßen tritt". Nach V. 26 ist er es, dem Jesus den Bissen eintaucht und gibt, der also sein "Brot ißt". Der Bezug auf Ps 41,10 in Joh 13,18 weist auf das Ungeheuerliche hin, daß der Verräter ein Tischgenosse Jesu, einer aus seinem engsten Freundeskreis ist. Die phantastische Deutung Steiners hingegen (Erde als Leib des "Erdengeistes", der "Christus" sein soll) hat weder an dieser noch an einer anderen Stelle der Bibel einen vom klaren Wortsinn her verifizierbaren Anhaltspunkt.

1.2.3 Das "wörtliche Verstehen" als versteckte Allegorese

Diese Beispiele - und sie lassen sich beliebig vermehren - bestätigen die Vermutung, daß Steiners Auslegung nicht vom biblischen Gesamtzusammenhang und Wortlaut bestimmt wird, sondern von einer Größe, die außerhalb der Bibel liegt: von der Akasha-Chronik, wobei dieselbe sein eigenes, durch assoziierende Spekulation gewonnenes Produkt ist. Steiner behauptet zwar, daß Akasha-Chronik und Bibel miteinander in Einklang stehen; wie wir im Artikel Akasha-Chronik grundsätzlich und soeben exemplarisch gezeigt haben, ist das jedoch nicht der Fall. Deshalb versucht Steiner, beide Größen miteinander in Einklang zu bringen - und zwar, indem er durch seine "Auslegung" die Bibel etwas anderes sagen läßt, als im Text dasteht. Diese Form der "Auslegung" heißt - "Allegorese".

Steiners "wörtliches Verstehen" des Bibeltextes ist eine versteckte Form der Allegorese. Als ein Verstehen vom "okkulten Standpunkt" her trägt es die Ergebnisse der Akasha-Forschung in die Bibel hinein und verfehlt damit ihre vom innerbiblischen Kontext her festgelegte Botschaft. Die Kritik, die Luther im Blick auf Karlstadts "Übergenaunehmen von Buchstaben" formuliert hat, gilt auch hier. Gerhard Ebeling faßt sie zusammen:

"Diese ohnehin unhaltbaren philologischen Kunststücke, die ein Wort herausgreifen und darüber den Sinn des ganzen Textes verfehlen ... liegen für Luther auf der gleichen Ebene wie die Allegorese. Der Glaube kann weder auf Punkten und Buchstaben, noch auf grammatischen Regeln beruhen ... Der Widerspruch zwischen einem Übergenaunehmen von Buchstaben und einer sich über den wörtlichen Sinn hinwegsetzenden Allegorese ist im Grunde nur ein scheinbarer“ (Ebeling 1942, 323f).

Luther selber schreibt:

"Es gillt... nicht, eyn wort eraus zwacken und drauff pochen, man mus die meynung des gantzen texts, wie er an eynander hangt, an sehen“ (WA 18,69,9-11).

Steiners kritische Bemerkung, daß eine "allegorisch-symbolisch[e]" Auslegung "sehr geistreich" sein kann, aber "vielfach willkürlich" ist (94,161), richtet sich nun gegen ihn selbst: Das Herantragen einer aus der "Akasha-Chronik" stammenden und damit - empirisch wie theologisch - unhaltbaren und gesamtbiblisch nicht verifizierbaren Weltanschauung an die Bibel kann nur als Willkür bezeichnet werden. Da diese Weltanschauung nur formal an Begriffe der Bibel anknüpft, aber deren wesentlichen Inhalte z.T. völlig umdeutet oder ignoriert, kann auch von einem Auffinden des Zweitsinns im Erstsinn - und damit von einer "symbolischen" Auslegung - keine Rede sein. Eine angeblich "symbolische" Auslegung ist von dem Augenblick an als allegorisch zu erkennen, wo sie den gesamtbiblischen Kontext außer acht läßt und somit ihr "Zweitsinn" auf keinem abgesicherten Erstsinn mehr ruht. Nicht der biblische Gesamtzusammenhang, sondern die neben der Bibel stehende Akasha-Chronik bestimmt bei Steiner, was als Zweitsinn zu gelten hat, und zwingt somit zur Allegorese.

1.2.4 Die Vernachlässigung des Literalsinns

Dieser Zweitsinn (wir nennen ihn "Akasha-Zweitsinn") verselbständigt sich bei Steiner nun so weit, daß er den biblisch-buchstäblichen Erstsinn entweder ganz verdrängt und an seine Stelle tritt oder sich als spezifisch anthroposophischer sensus spiritualis (geistlicher Sinn) über diesen erhebt - gleichsam als "höhere" Stufe der Interpretation, auf die es der Anthroposophie ausschließlich ankommt. Charakteristisch für den allegorischen Gebrauch des Akasha-Zweitsinns ist also, daß er unabhängig vom biblisch-buchstäblichen Erstsinn existieren bzw. seine Bedeutung entfalten kann, da er nicht von diesem, sondern von der Akasha-Chronik seine Sinngebung erfährt.

L. Goppelt (1973, 19) erinnert daran, daß Gegenstand der allegorischen Auslegung weder die "Fakta" noch der "Wortsinn" einer Darstellung als ganzer, sondern lediglich ihre "Begriffe und Wendungen" sind. Die allegorische Auslegung sucht in ihnen, sie als "Metaphern" auffassend, "'neben dem buchstäblichen Sinn des Textes oder bisweilen auch unter völligem Ausschluß desselben eine andere, hiervon verschiedene und vermeintlich tiefere Bedeutung`" (Zitat im Zitat aus: Torm 1930, 213). "Geschichtlichkeit" und "Wortsinn" des Berichteten sind "für die Allegorie gleichgültig, für die Typologie (und wenigstens letzterer auch für die symbolische Deutung) Grundlage". Goppelt weist auch darauf hin, daß der Allegorist selber "diese Doppelsinnigkeit nicht als eingetragen, sondern als vom Text gewollt und gegeben" ansieht.

Diese für die Allegorese charakteristische Gleichgültigkeit gegenüber dem buchstäblichen, "äußeren" Sinn tritt in der anthroposophischen Bibelauslegung immer wieder klar zutage. Beispielsweise antwortet E. Bock auf die Frage, ob es sich bei der Sturmstillung durch Jesus (Lk 8,22-25 parr) "nur um einen Vorgang in den Seelen oder zugleich um ein Geschehen im äußerlich physischen Sinne handelt":

"Diese Frage muß jedoch nicht unbedingt entschieden werden. Denn ob sich der Vorgang der Überfahrt über den stürmischen See Genezareth und die Stillung des Sturmes durch Christi Werk äußerlich abgespielt hat oder nicht: auf jeden Fall meint das Evangelium, wie es der lukanische Zusammenhang unverkennbar zeigt, einen inneren Vorgang, den die Jünger im Zusammensein mit Christus erlebt haben" (Ev,679f).

Der "innere Vorgang", den die Jünger erlebt hätten, sei der, daß sie "in ihrem Seelenwesen den Sturm gewahr [wurden], der es nicht duldet, daß sich der Spiegel der ätherischen Lebenskräfte rein und klar den lichten Sphären der Geistwelt gegenüberstellt und seine Lotosblumen als Augen aufschlägt" (Ev, 680). Diese Außerachtlassung des äußeren Vorgangs und die "Entdeckung" des anthroposophischen Erkenntnisweges (mit seiner Ausbildung der hellseherischen Lotosblumen) im Text ist ein typisches Beispiel für allegoristische "Eisegese". Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang daran, wie Steiner seine Auslegungsweise definiert:

"Nicht die historische Realität wird durch eine symbolische Erläuterung geleugnet; sondern es muss betont werden, dass die esoterische Erklärung beides umfaßt: die Auffassung der Tatsachen als historische - und, indem sie historisch sind, bedeuten sie selbst zugleich das, was wir ihnen beilegen" (103,81f).

Und R. Frieling (1948, 205) schreibt über seine "Gesichtspunkte der Auslegung":

"Um aber dieses tief Bedeutsame aus-legen zu können, müssen wir die Begriffe und Bildvorstellungen der altheiligen Texte erst wieder auffüllen. Solches Auffüllen mag den Anschein erwecken, daß wir nicht `aus`-, sondern 'ein-legen'. Letzteres ist dann aber vollberechtigt, wenn wir nichts anderes hineinlegen, als was von Anbeginn her von Gottes und Rechts wegen in diesen Inhalten daringelegen war."

Was "von Anbeginn her" in den Texten "daringelegen" war und jetzt wieder "eingelegt" werden soll, bestimmt die Anthroposophie: "Sie gibt wieder ein Welt-Bild, transparent für den Goldgrund des Übersinnlichen." Dieses Weltbild stammt aus den "Mitteilungen des Geistesforschers", also aus der Akasha-Chronik (ebd.). "Keineswegs" - so E. Bock - "wird hier in Anspruch genommen, solche Mitteilungen zu beweisen oder gar aus dem biblischen Text herauszulesen. Sie werden als einzelne, aber durchaus organische Bestandteile einer Gesamtanschauung und -überzeugung tatsachenmäßig angeführt, damit sich alles gegenseitig beleuchte und trage und vertiefe: die Mitteilungen der biblischen Urkunde, die Ergebnisse der äußeren Geschichtserforschung und die Ergebnisse der [anthroposophischen; d. Verf.] Geistesforschung" (II,27). Diese Tendenz der umfassenden, höchst spekulativen, angeblich "organischen" Harmonisierung ist typisch für die Anthroposophie. Da diese Harmonisierung, wie gezeigt, jedoch nicht ohne weiteres gelingt, muß die Akasha-Chronik die Rolle der "Richterin" übernehmen. Die biblischen Texte sind daraufhin so lange "aufzufüllen" (bzw. ihr Wortlaut ist so lange umzudeuten), bis sie den Mitteilungen aus der Akasha-Chronik entsprechen. R. Frieling (1948, 154) formuliert das so:

"Das Zunächstliegende soll man nicht weg-deuten, man soll es nur tief genug nehmen. Man braucht nichts Fremdes in die Dinge hineinzuinterpretieren, aber das Vergängliche ist Gleichnis, und hinter dem Vordergründigen erscheint in der Ferne das Ungeheure, das Weltengroße."

Wenn diese "Tiefendeutung" jedoch in so große "Ferne" zum biblischen Wortlaut gerät, daß ihr nicht nur jeder inhaltliche Bezug zu diesem fehlt, sondern sie darüber hinaus in direkten Widerspruch zu ihm tritt, dann führt sie sich selber ad absurdum. Dann zeigt sich, daß doch Fremdes an das "Zunächstliegende" des Wortlauts herangetragen worden ist.

1.2.5 Philologische Fehler

Das "Auffüllen" der "altheiligen Texte" geschieht, indem die "schöpfungsgemäße Bedeutungs-Fülle" der darin enthaltenen Begriffe wieder hergestellt werden soll:

"Nicht darauf kommt es an, jeweils eine bestimmte Bedeutung lexikologisch zu fixieren und etikettenmäßig aufzukleben, sondern darauf, die schöpfungsgemäße Bedeutungs-Fülle wieder herzustellen" (Frieling 1948, 206).

Wo jedoch einem Wort eine Fülle von Bedeutungen beigelegt wird, steht die Tür zu subjektiv-willkürlicher Auslegung weit offen. Eindeutigkeit - und damit die Möglichkeit zur Argumentation - wird hingegen nur durch die lexikologische und kontextuale Festlegung des Wortsinns gewährleistet.

Da die anthroposophische Exegese die Tätigkeit "blosse[r] Philologen" geringachtet (vgl. z. B. 103,17f), verwundert es nicht, daß ihr Fehler unterlaufen, die bei einem Ernstnehmen des Wortsinns und ernsthaftem philologischen Bemühen so kaum geschehen würden. Darauf haben Werner Foerster und Guenther Siedenschnur anhand mehrerer Beispiele aus der anthroposophischen Literatur hingewiesen. W. Foerster (in: Stählin 1953, 74) bemerkt im Blick auf die anthroposophische Auslegungsmethode:

"Will man hier folgen, so muß man allerdings seine griechischen und hebräischen Kenntnisse und was man aus der Zeitgeschichte weiß, zu Hause lassen und sich den Geistesforschungen Steiners willig und kritiklos beugen.“

Im folgenden geben wir zur Veranschaulichung zunächst zwei Beispiele von Foerster (vgl. ebd., 71ff) und dann vier weitere Beispiele aus unserer eigenen Beobachtung wieder.

  1. Nach Emil Bocks Auffassung hängt der Name "Kana" zusammen mit "Kanaan, dem ganzen Lande in seiner ursprünglichen, elementarischen Art. Er hängt aber auch zusammen mit Kain" (Ev, 187). - Wie jedoch Foerster richtig anmerkt, schreiben sich die Worte "Kain" und "Kanaan" im Hebräischen mit verschiedenen Buchstaben: Kanaan mit kaph, Kain mit qoph. "Beide Laute kann der Semit nicht miteinander verwechseln."
  2. Emil Bock schreibt: "'Saba' ist mehr als ein geographischer Name. Die Mehrzahl von Saba heißt Sabaoth: die Sternenheere des Himmels und die in den Sternen wohnenden Engelhierarchien, die himmlischen Heerscharen" (Ev, 546). - Auch hier verwechselt Bock die Buchstaben. Foerster: "Die Königin von Saba, hebräisch Sch'ba, soll an Zebaoth erinnern: mit dem vollständig anderen zade-Laut beginnend.“
  3. Nach Rudolf Steiner ist "Manna ... das gleiche Wort wie Manas" (94,268). Friedrich Rittelmeyer führt aus: "Das Manna, das schon in seinem Wortstamm hinweist auf den Geist, mens, manas, ist in der Bibel das Bild einer zukünftigen Ernährung von oben“ (Rittelmeyer 1938, 120f). Außer dem ähnlichen Klang haben diese Worte jedoch nichts miteinander gemeinsam, da sie völlig unterschiedlichen Sprachbereichen entstammen:
  4. "Manna" (hebr. "man") dem semitischen, "mens" (lat.) dem romanischen und "manas" (Sanskrit) dem indischen Sprachbereich. Das hebräische Äquivalent zu "Geist" wäre "ruah", nicht "man". Zu Recht vermutet Steiner, daß "die Philologen manches gegen diese Erklärung einwenden" werden, um dann freilich sogleich - ohne Begründung und mit dogmatischem Anspruch - zu beteuern: "... aber es verhält sich doch so" (94,268).
  5. Steiner gibt der Verheißung an Abraham in Gen 22,17 eine astrologische Deutung: "Deine Nachkommen sollen angeordnet sein nach der Ordnung, nach der Zahl der Sterne - was unsinnigerweise die Bibel übersetzt: `Deine Nachkommen sollen sein wie der Sand am Meer"' (117,116). - Aber abgesehen davon, daß Steiner hier ohne sachlichen Grund "Sterne" und "Sand" gegeneinander ausspielt (wohl infolge flüchtigen Lesens; in Wirklichkeit steht beides da), ist festzustellen, daß weder der hebräische Urtext noch der Kontext die Steinersche Deutung stützen: Im Urtext ist nicht von einer "Anordnung" (das wäre hebr. "mispat"), sondern davon die Rede, daß Gott Abrahams Geschlecht "viel machen, vermehren" will (hebr. "rabah"), und auch die Parallelstellen in Gen 13,16 und 15,5 bringen durch die Betonung der Unzählbarkeit deutlich den numerischen Skopus zum Ausdruck. Es ist auffallend, daß selbst R. Frieling von der - wohl gar zu willkürlichen – Steinerschen Deutung abrückt und Gen 13,16; 15,5 und 22,17 ebenfalls numerisch deutet: "Unzählbar groß soll seine Nachkommenschaft sein - wie die Staubkörner der Erde, wie der Sand am Meeresufer, wie die Sterne des Himmels“ (Frieling 1983, 46).
  6. Nach Steiner verlangt das griechische Wort "auton" in der ersten Seligpreisung (Mt 5,3) folgende Deutung: "'In ihnen selbst' - oder `durch sich selbst' - `werden sie haben die Reiche der Himmel`“ (123,270). - Diese Deutung widerspricht jedoch dem Wortsinn und Kontext, denn bei der Formulierung "auton estin" handelt es sich um einen Genitivus possesivus: "Ihrer ist [bzw. ihnen gehört] das Königtum [Singular!] der Himmel.“ Hätte Steiner recht, dann müßte es "en autois" o.ä. heißen, was aber nicht der Fall ist.
  7. Der Ausdruck in Mt 7,29, daß Jesus lehrte "hos exusian echon", bedeutet nach Steiner: "... er lehrte die, welche da in den Synagogen saßen, wie ein `Exusiai', wie eine Gewalt, wie eine Offenbarung" (124,110f). Die "Exusiai" sind ein Glied der anthroposophischen Geisterhierarchie (Gottesbild). - Doch auch diese "Übersetzung" Steiners hat keinerlei Anhaltspunkt im Text: "Exusian" ist nicht Nominativ, sondern Akkusativ, der von "echon" abhängt. Der Nominativ müßte zudem "exusia" heißen. Die korrekte Übersetzung lautet: "Er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat" - im Gegensatz zu den Schriftgelehrten, die diese Vollmacht nicht haben, wie der matthäische Gesamtkontext ergibt.
"Auslegungen" wie die eben beschriebenen kommen offensichtlich durch das Denken in "großen Zusammenhängen" und die damit verbundene Vernachlässigung der philologischen Detailarbeit im Ausbildungs- und Berufsgang der betreffenden Autoren zustande, wie sich etwa in den Biographien Steiners und Bocks deutlich zeigt. Doch werden solche "Exegesen" häufig auch bewußt konstruiert. Wie das geschehen kann, hat Steiner selber an einer - gegen Arthur Drews gerichteten - "Satyre" aufge­zeigt. Um zu "beweisen", daß Napoleon nie gelebt habe, könne man z.B. folgendermaßen verfahren
"'Napoleon' hat den Namen des Sonnengottes `Apollon'. Nun bedeutet ein `N' vor dem Namen im Griechischen nicht eine Verneinung, sondern eine Verstärkung; daher wäre `Napoleon' - N'Apollon - sogar eine Art `Ueber-Apollon'. Dann kann man weiter gehen und eine merkwürdige Aehnlichkeit finden: Denken Sie daran, was der Erfinder des nichtexistierenden Jesus, der deutsche Philosophie-Professor Drews, herausfindet als Aehnlichkeit solcher Namen wie Jesus, Joses, Jason usw. ... So kann man merkwürdige Namenanklänge herausfinden zwischen der Mutter des Napoleon - Lätitia - und der Mutter des Apollon - Läto. Man kann weiter gehen und sagen: Apollon, die Sonne hat um sich zwölf Sternbilder: Napoleon hatte um sich zwölf Marschälle, die nichts weiter sein sollen als symbolische Ausdrücke für die sich um die Sonne herumgliedernden Tierkreisbilder. Aber nicht umsonst hat der Held des Napoleon-Mythos gerade sechs Geschwister, so dass Napoleon mit seinen Geschwistern zusammen sieben ergibt: wie auch die Planeten sieben an der Zahl sind. Also hat Napoleon nicht gelebt!" (123,322f).

Steiner sieht darin eine Parallele zur Leugnung der Existenz des historischen Jesus durch Drews und fährt fort:

"Das ist eine sehr geistreiche Satyre auf die symbolischen Ausdeutungen, die heute eine so grosse Rolle spielen ... Und wir müssen uns auch darüber klar sein, dass hierin gerade Anthroposophen recht leicht sündigen können. Auch die anthroposophische Bewegung ist keineswegs frei gewesen von jenem Spielen mit allerlei Symbolen, die aus den Sternenwelten genommen sind" (123,323).

Leider erkennt Steiner nicht, daß auch er selber solcher Willkür im Umgang mit biblischen Aussagen verfallen ist, wie die obigen Beispiele ergeben haben.

1.2.6 Der "neue Kontext" als Ergebnis fortgesetzter Allegorisierung

Nun ist noch darauf hinzuweisen, daß die anthroposophische Exegese versucht, einen neuen Kontext zu schaffen - und zwar durch fortgesetzte Allegorisierung: Allegorie wird an Allegorie gereiht und dann eine Allegorie mit der anderen begründet. Auf diese Weise hat E. Bock seine siebenbändigen "Beiträge zur Geistesgeschichte der Menschheit" verfaßt, in denen er das anthroposophische Weltbild der biblischen Geschichte aufzuprägen versucht.

Als Beispiel für die fortgesetzte Allegorisierung wählen wir das Leben des Mose. Für Bock ist Mose "der große Führer aus dem Traumland alten Schauens in das Wachland des Gedankens" (II,44). Schon als Säugling wurde er zur Einweihung in die Mysterien vorbereitet, was durch das "Mose-Kästchen" als "Symbolum des Einweihungssarges" zum Ausdruck kommt (II,25). Als er dann später den Ägypter niederschlug, erschlug er "eigentlich den Ägypter in sich selbst", d. h. er begann, Ägypten als Ort des alten Schauens zu verlassen (II, 33). Das Leuchten auf dem Angesicht Moses nach der Begegnung mit Gott (Ex 34,29f) entstammte der "zweiblättrigen Lotosblume", dem "Licht-Gehörn" als demjenigen "Geist-Organ", das "als letztes im denkerisch-bewußt werdenden Menschen erlosch" (II,39).

Bei den zehn ägyptischen Plagen handelte es sich "nicht um physische, sondern um seelische Vorgänge", die das "immer tiefere Heruntersteigen des seelisch-geistigen Menschenwesens in die harte physische Leiblichkeit" darstellten (II,51f). Beim Durchzug durch das Rote Meer kam es zur Trennung zwischen der "neuen intellektualisierten Weltanschauung" des Moses und dem alten Hellsehen der Ägypter (II,54), und in der Gesteinswüste, die es durchzog, sollte das Volk Israel "die Erde finden als den nun fertig erhärteten Bodensatz alles kosmischen Werdens". Durch die "Ausbildung eines konsequent irdischen Bewußtseins" sollte es die physische Jesusleiblichkeit ausgestalten, die später dem "vom Himmel zur Erde wandernden Christus" als "Hülle" dienen sollte (II,59.61). Soweit Emil Bock.

Eine solche Art der Darstellung ist nur so lange in sich geschlossen, wie der Betrachter innerhalb der allegorischen Ebene - und das heißt hier: der anthroposophischen Weltanschauung - bleibt. Sobald er sie verläßt, wird er mit der wörtlichen Bedeutung von Texten konfrontiert, die sich nicht - oder nur gewaltsam - allegorisieren lassen und deren Umdeutung somit keineswegs "in der Linie des Textes" liegt, wie es R. Frieling (1948, 206) für die anthroposophische Exegese beansprucht. So ist es z.B. nur höchst gewaltsam möglich, die Familienangehörigen des Noah in Gen 7,7 zu "Völkern" umzudeuten, die der große "Manu" angeblich "aus der untergehenden Atlantis" herausgeführt hat (s. o.). Ebenso gewaltsam ist die Deutung des erschlagenen Ägypters (Ex 2,12) auf Mose selbst. Auch die anderen Vorstellungen Bocks finden keinen Anhaltspunkt im Wortsinn der Texte (zur Unvereinbarkeit von jüdisch-christlichem Gottesglauben und magischen Vorstellungen in nichtchristlichen Religionen s. Bibelverständnis, Gottesbild). Ist jedoch bereits ein Glied in der Kette der allegorischen Begründung gesprengt, dann ist die ganze Kette gerissen. Das ist bei der anthroposophischen Bibelauslegung (spirituelle Interpretation) der Fall.

Zusammenfassung

Wir fassen unser Ergebnis im Blick auf den anthroposophischen Zugang zur Bibel in folgende Thesen zusammen:

  • In der Anthroposophie ist der exoterische Zugang zum Geist der Schrift (spirituelle Interpretation) vom esoterischen Zugang (Akasha-Chronik) abhängig.
  • Die Übereinstimmung zwischen Akasha-Chronik, äußerer Geschichtsforschung und Bibel wird postuliert, aber nicht bewiesen.
  • Wo sich die Übereinstimmung zwischen Akasha-Chronik und Bibel aus dem vorliegenden biblischen Wortlaut und Kontext nicht ergibt, wird sie durch Außerachtlassung oder Umdeutung des Wortlautes und Kontextes der Bibel künstlich herbeigeführt.
  • Da hierbei nicht inhaltlich, sondern nur formal an biblische Begriffe und Wendungen angeknüpft wird, handelt es sich nicht um symbolische, sondern um allegorische Deutung. Sie setzt sich über philologische Regeln hinweg und trägt fremde Inhalte an die biblischen Begriffe und Wendungen heran, die nur als Formhülsen zur Aufnahme dieser Inhalte fungieren.
  • Daß die anthroposophische Exegese nur formal, nicht inhaltlich an die biblischen Texte anknüpft, wird daran deutlich, daß ihre Deutungen (als Zweitsinn) vielfach in direkten Widerspruch zum biblischen Wortlaut (Erstsinn) treten. Ein solcher Widerspruch zwischen Erstsinn und Zweitsinn aber ist eine exegetische Unmöglichkeit und zeigt die Unhaltbarkeit des gesamten anthroposophischen Unterfangens auf.
  • Wenn die anthroposophische Bibelauslegung behauptet, durch ihr "wörtliches Verstehen" den eigentlichen Erstsinn eines Textes zutage zu fördern, verliert sie den Wortsinn (Erstsinn) gerade, wo sie durch ihr "Übergenaunehmen von Buchstaben" den - kontextual als Erstsinn festgelegten - Charakter des Textes (z.B. als Bildrede) zerstört. Hier liegt eine Form versteckter Allegorese vor.
  • Einer solchen – vom kontextual geforderten Erstsinn her nicht begründbaren - Allegorese eignet Uneindeutigkeit und Willkür. Sie ist zur Argumentation ungeeignet. Eine Weltanschauung - etwa die anthroposophische – läßt sich durch eine solche Art der Auslegung nicht stützen.

Literaturhinweise

L. Gassmann; Anthroposophie-Lexikon; Folgen Verlag; (Mai 20171)

Einzelhinweise und Quellen

Anmerkungen


Quellenangaben



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